KESTINGS FLASCHENPOST: KLEINE SCHULE DER GESANGSKUNST

Das erste Märchen

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Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.

Jürgen Kesting
Jürgen Kesting
15.02.2023

„Sie war der Hebel, der eine Welt umgedreht hat, zu den Hörenden, man konnte plötzlich durchhören, durch Jahrhunderte … Sie war das letzte Märchen.“ Lässt sich eine Frage anschließen an diese berühmten Worte von Ingeborg Bachmann über Maria Callas? Hat es vor ihr einen Künstler gegeben, der Hebel war – oder vielleicht das erste Märchen? Es gab ihn, auf den 12. Februar ist sein 150. Geburtstag gefallen. Es war der russische Bass Fjodor Schaljapin. Er war gehörte zu den drei Sängern, die der Gesangskunst im 20. Jahrhundert eine neue Richtung gegeben haben: neben Caruso, der die maniera verista etablierte, und Maria Callas, die den Weg zurück zum Belcanto der romantischen Oper fand.

schaljapin

Feiert in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag: Fjodor Schaljapin.

(Foto: Verband der Fotokünstler Russlands)

Schaljapin wurde zum Urtypus des Sänger-Schauspielers: durch die Gestaltung einer Partie, die kurz vor seiner Geburt geschrieben worden war, aber erst 25 Jahre später durch sein Darstellungs-Genie Eingang fand ins Repertoire der Weltbühnen: Boris Godunow. Eines der eindringlichsten Beispiele für seine vokale Psycho-Kunst ist der erste Auftritt des Zaren: Die ersten Worte – „Skorbít dúsha!“ („Meine Seele ist schwer“) – klingen nicht so, als wären sie an ein Publikum gerichtet, er spricht sie in die dunklen Kammern seiner von Ängsten erfüllten Seele. Es gibt wenige andere Beispiele dafür, dass Hörende das Gefühl haben, ein Sänger zu hören, der nur für sich spricht.

Sänger-Schauspieler ist zwiespältiger, ein umstrittener Begriff. Schaljapin meinte nicht einen Darsteller, dem es allein um den Primat der Sprache ging. Er verstand sich als Schauspieler, der in der Gestalt singt, dass das Singen die Prägnanz des Sprechens gewinnt und eine Einheit von Klang und Gedanken hat.

Die Frage, wie aus dem in Kasan geborenen Schaljapin der Sänger wurde, der schon früh als „the great Schaljapin“ bezeichnet wurde, gehört zu den erstaunlichsten künstlerischen Entwicklungen der Operngeschichte. Talent? Wenn, dann war es die größte Eruption vieler Talente in der Geschichte der Oper. Schaljapin hatte keine Kindheit. Er wuchs auf in Armut und Elend und in der Hölle von Prügel. Die Welt, die er suchte, fand er, als er mit acht Jahren zum ersten Mal ein Theater besuchte. Nach Jahren in der Provinz, durch die er tingeln musste, durchaus nicht im Grünen Wagen, absolvierte er eine nur einjährige Ausbildung bei Dmitri Usatow. Er debütierte 1894 in Tiflis, wurde 1895 ans St. Petersburger Mariinsky Theater engagiert und ließ sich von einem „Moskauer Medici“ 1896 an dessen in Moskau errichtetes Privat-Theater locken: Sawwa Mamontow.

In drei Jahren sang er dort 22 Partien, bis er das Versprechen seines Impresario – „An diesem Theater kannst du machen, was du willst“ – einlösen konnte: Er sang die Titelpartie von Mussorgskys Oper, die er mit seinem Freund Sergei Rachmaninow erarbeitet hatte. Schon kurz nach seiner ersten Darstellung wurde er, inzwischen am Bolschoi engagiert, als „Stolz und Ruhm der russischen Oper“ gerühmt, weil er der russischen Oper die Parität im Repertoire gesichert hatte. In welchem Maß seine singdarstellerische Kunst für Bewunderung und Staunen sorgte, zeigt eine Bemerkung des Komponisten Arrigo Boito. Schaljapins Debüt anno 1901 – neben Caruso, unter Toscanini – erklärte ihm, warum seine Oper lange Zeit wenig Anerkennung gefunden hatte: „Ich habe vorher eben nur arme Teufel gehabt.“

Auch wenn Schaljapin das damalige Publikum durch die dramatische Intensität der Darstellung fesselte (oft auch irritierte und abschreckte) war er immer ein subtiler Sänger. Beim Mefistofele-Auftritt „Ave, signor“ versagt er sich den Effekt, die erste Phrase (pseudo-)dämonisch dröhnen zu lassen, wie es viele seiner Nachfolger (Nachahmer) tun; tritt vielmehr mokant und sardonisch auf. Und obwohl er die Vokale schlank und dadurch farbgenau bildet, ist zu hören, wie gut und weit die Stimme in schlanker Fassung trägt – auch im Theater.

Noch einmal zum Boris. Es war die force majeur Schaljapins, die weltweit für den Durchbruch dieses Werks sorgte: 1898 am Theater des Sawwa Mamontov, 1904 am Mariinski, 1908 in einer von Sergei Diaghilew angeregten Produktion in Paris, 1909 am Teatro alla Scala, 1921 an der Metropolitan Opera, 1928 in London – in einer Aufführung, die in Teilen mitgeschnitten wurde. Hier lässt sich exemplarisch das Ziel einer „psychophysischen Handlung“ studieren, auf die sich Schaljapin in vielfältiger Weise vorbereitete. Er studierte die Persönlichkeit der Figuren, sorgsam zwischen historischen, mythischen oder literarischen Charakteren unterscheidend; er fertigte, nach dem Vorbild von Maler-Freunden, Skizzen für die jeweiligen Physiognomien, deren Mimus er bis ins Detail ausfeilte: Er war, wie Rollenfotos zeigen, ein Mann der tausend Gesichter und Mienen. Ebenso gut verstand sich der hoch-gewachsene, athletische Sänger darauf, der physique du rôle gerecht zu werden. „Eine Geste, ein Schritt sind nicht einfach nur ein physischer Vorgang“, sagte er, „ sondern Ausdruck einer inneren Bewegung“. Das endgültige Ziel lag darin, durch die vollkommene Verbindung von Klang und Gebärde, von Wort und Musik eine „Intonation“ zu finden, um die Seelenlandschaft einer Figur zu erkunden.

Er hat Schule gemacht. Der große Konstantin Stanislawski erklärte, dass alle seine Theaterarbeiten auf der Kunst Schaljapins beruhten. Der russische Regisseur war wiederum das Vorbild für Lee Strasberg, der das sogenannte „method acting“ nach Hollywood brachte. Insofern lässt sich Schaljapin als der erste Marlon Brando bezeichnen.

Mit dem Boris hat er das erste herausragende Portrait der modernen Opernbühne gegeben. In jedem Sänger des Filippo in Don Carlos, in jedem des Fiesco in Simon Boccanegra treffen wir auf den großen Russen. In der Hierarchie der Fächer hat er den Bass neben der Diva und dem Divo etabliert. Und auf die mentalitätsgeschichtlich fesselnde Frage, „Was ist russisch?“, finden sich in den Aufnahmen Schaljapins viele Antworten. Auch in seinen herzbewegenden und seelentiefen Aufnahmen russischer Lieder, wenn er, a cappella singend, seine unerreichte Kunst beim Gebrauch der Halbstimme entfaltet. Selbst das zarteste Pianissimo hat immer die Substanz eines auf dem Atem liegenden Tons. ¶

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