Es existiert kein Instrument, das sich der menschlichen Stimme vergleichen ließe, fand schon William Byrd. Ob uns ein Gesang anspricht oder nicht, ist meist schnell klar; aber schwer zu sagen, warum. Jürgen Kesting, takt1-Kolumnist und einer der international führenden Experten der Gesangskunst, führt hier in diesen „Flaschenposten“ in das kleine und große Einmaleins des Kunstgesangs ein. In loser Folge geht es ums Wesentliche: um technische Themen, um zentrale Werke, vor allem aber um große Sängerinnen und Sänger. Ihre Aufnahmen, nicht wenige mehr als hundert Jahre alt, sind Flaschenpost einer vergangenen Zeit, nicht selten lehrreich fürs Heute.
In den Besetzungslisten von Opernaufnahmen ist das Wort nicht zu finden: Baritenore. Hierzulande ist der Begriff, so scheint es, fast unbekannt. Dabei hat es Sänger mit einer in der unteren Oktave dunklen, vollen und in der zweiten Oktave bis zum A oder B brillanten Stimme des öfteren gegeben, doch sind sie nur als Tenöre bekannt geworden: Giovanni Zenatello, Renato Zanelli, Lauritz Melchior, Ramon Vinay und Carlo Bergonzi, die im Bariton-Fach begonnen haben, gehörten dazu; wohl auch Plácido Domingo, der im tieferen Fach startete und in den letzten Jahren wieder dorthin zurückgekehrt ist. Aber wer vor einigen Jahren nach einem Sänger gefragt hätte, der die Arien des Grafen aus Mozarts Figaro, des Luna aus Il Trovatore oder den Prolog des Tonio aus Pagliacci ebenso singen kann wie die des Tonio aus La Fille du régiment (mit der Salve von hohen C’s) oder gar das Lied des Chapelou aus Le Postillon de Lonjumeau (mit einem hohen D), wäre wohl der Ahnungslosigkeit geziehen worden.
Und doch: es gibt ihn. Unter dem Titel BariTenor hat der eigentlich schon seit Jahren bekannte Michael Spyres nun das Flaggenzeichen für die Wiederkehr eines Typus gegeben, ohne den einige Opern von Rossini – darunter Otello, La Donna del Lago, Ermione, Armida oder Ricciardo e Zoraide – nicht adäquat besetzt werden können, gerade hinsichtlich des Klangs: Der junge Mann (und Liebhaber) hat die helle, lichte Stimme, der ältere Mann die dunklere. Nicht nur Rossini, sondern auch Verdi unterschieden zwischen Otello und Rodrigo beziehungsweise Cassio durch unterschiedliche Klangcharaktere. Diese Kontraste werden im neuen Recital von Michael Spyres auf faszinierende Weise deutlich.
Vierzehn Mal das hohe G: Michael Spyres brilliert auf seinem neuen Album mit Mozarts „Hai già vinta la causa“.
In achtzehn Arien von fünfzehn Komponisten ist ein Sänger zu erleben, der nicht in erster Linie durch den Eigenreiz des Timbres – also durch eine bella voce – imponiert, sondern durch seine musikalisch-technischen Fertigkeiten überzeugt. Überzeugt? Ach nein, das ist ein nicht ausreichendes Wort. Das bessere ist: überwältigt, weil die technischen Fertigkeiten die Voraussetzung sind für die musikalisch-stilistischen Qualitäten seines Singens. Welch ein Auftakt: Idomeneos Arie Fuor del mar, die Mozart vereinfachen musste, weil der berühmte Anton Raaf, zur Zeit der Uraufführung im Herbst seiner Karriere angekommen, nicht länger in der Lage war, die langen, die endlos langen Teilungen (16tel-Koloratur-Quartolen) auszuführen. Mozart schrieb also eine vereinfachte Version, für die auch einige Sänger der Gesamtaufnahmen wohl dankbar waren. Und wer den langen Triller auf dem Wort „minacciar“ (Takt 75) hören wollte, musste auf die Aufnahme des aus der Kantorenschule stammenden Hermann Jadlowker zurückgreifen. Wenn Spyres in der Reprise zusätzliche Triller einfügt, dient das nicht der Demonstration technischen Könnens, sondern der Ausdruckssteigerung mit immanent musikalischen Mitteln.
Ebenso brillant ist die Aufnahme der Arie des Grafen aus Le Nozze di Figaro: Hai già vinta la causa, die Mozart, wie Spyres schreibt, für eine Wiener Aufführung revidierte. Im Anhang der Mozart-Ausgabe ist diese Variante nicht enthalten – aber wie auch immer: die tour de force des Sängers, die vierzehn Mal auf das hohe G führt, verdient bewunderndes Staunen.
Michael Spyres bei einem Konzert in London.
(Foto: Russell Duncan)Auf Dutzende, auf hunderte Details wäre noch hinzuweisen – hier nur die Empfehlung, einen Sänger zu erleben, der die voix mixte und die mezza voce für französische Partien besitzt, die leichte und helle Höhe für den Aufstieg in Stratosphären, die dynamische Flexibilität (auch die messa di voce) für expressive Steigerungen und ein Koloraturfähigkeit, die an das Goldene Zeitalter des Belcanto erinnert. ¶