THE SOCIETY OF MUSIC: 2. März 2022

Zur Besinnung kommen. Die Lage, Musik, Europa

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Holger Noltze
Holger Noltze
02.03.2022

Am Morgen, als der Krieg begann, war immer wieder die Rede vom Aufwachen in einer anderen Welt, und das leuchtete mir ein, anders als viele Formeln, die gesucht werden, in der Politik und in den Medien, um eine brisante aber unklare Lage auf den Begriff zu bringen. Das Aufwachen wurde beschrieben als das aus Träumen von Frieden und Verständigung und „regelbasiertem“ Miteinander. Was jetzt „die Lagen“ sind, die geopolitischen, fürchterlicherweise militärischen, können Sie überall lesen und hören. An dieser Stelle nur ein paar Worte zur Lage der Musik in all dem. Ich meine nicht die öffentliche Positionierung von Musiker*innen, verständlicherweise gegen Krieg und Gewalt, und die Frage, ob ein Vertrauter Putins weiter Chef eines großen deutschen Orchesters sein kann, ob die Distanzierung Anna Netrebkos vom Krieg in der Ukraine „ausreichend“ sei, usw. Das ist der Sound dieser Tage, er hat mit Musik erstmal nichts zu tun.

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Hier spielt gerade keine Musik: das Opernhaus in Lwiw, Ukraine.

(Foto: Felix Kriewald)

Für mich hat die Musik, um die wir uns hier bei takt1 kümmern, eine Menge mit einer Idee von „Europa“ zu tun, im weiteren Sinn dem „Westen“, gar nicht im Sinn einer Behauptung von Superiorität, sondern als Wertschätzung seiner kulturellen Vielfalt, in der Musik so eine wichtige Rolle spielt. Für mich zählt Musik zu jenen Werten, an die gerade erinnert wird, ein paar zivilisatorische Errungenschaften (notabene nicht auf Europa beschränkt), von demokratischen, jedenfalls nicht autokratischen Verfasstheiten, von ein paar Spielregeln von Vernunft, jedenfalls nicht einem Irrationalen, von einem auf Information und jedenfalls nicht Desinformation verpflichteten Medien-und Gemeinwesen. Natürlich geht es in der Musik um weit mehr als um schöne Töne, es geht auch um Politik. Das wussten wir schon, und nicht nur, wenn wir eine Symphonie von Schostakowitsch hören. Es wird uns gerade aber auf eine ungeahnte Weise bewusst.

Deshalb ist das Aufwachen, von dem die Rede ist, vielleicht auch ein Zur-Besinnung-Kommen, durchaus auch verstanden als Erwachen aus einer Ohnmacht. – Plötzlich diese Klarsicht, worum es geht: ums Ganze. Und wenn Sie eine Prise Pathos gestatten: in jeder Note, und nicht bloß rhetorisch. ¶

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