THE SOCIETY OF MUSIC: 25. Mai 2022

Tanz’ die Disruption!

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Holger Noltze
Holger Noltze
25.05.2022

Es gibt einen Gemeinplatz der Musik- und Kunstkritik, der, so oder ähnlich formuliert, besagt: Routine ist der Feind der Kunst. Ein künstlerisches Ereignis zeichnet sich aus dadurch, dass es gerade das Andere von Routinen ahnen lässt, das Außer-Ordentliche, das Unvorhersehbare. Das ist sicher nicht falsch. Sind wir doch, immer wieder aufs Neue wartend im Parkett, oder beim Hören einer neuen Platte, beim Anschauen eines Videostreams, immer neu suchend und süchtelnd nach der Sternstunde, dem Überraschenden, nicht der Exekution wohlerprobter Professionalität.

Und doch. Es geht ja nie ohne Routinen. Kein künstlerischer Betrieb ist ohne sie denkbar, und je komplexer die Strukturen, desto ausgeprägter die professionellen Abläufe. Kein Instrument ist zu „lernen“, keine Stimme zu bilden ohne viele viele Wiederholungen, ohne „Üben“. – Was also? Ab wann wirken die Wiederholungen des Immergleichen sklerotisch, auf den Betrieb, auf eine Aufführung, auf eine individuelle künstlerische Ambition? Ist nicht schon und nur zum Beispiel ein Opernspielplan eine Art kultureller Routine, mit den altbekannten Lieblingsstücken von Mozart Wagner Verdi im Zentrum und ihrerseits schon routinierter Entdeckungen und einer Prise Neues drumherum?

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Sind werktreue Inszenierungen ebenfalls lähmende Routine?

(Foto: Felsenstein)

Zu den Diskursgewohnheiten gehört auch die Beschwörung des Alles-Immer-Neu, ein weiterer Gemeinplatz, diesmal auf Seiten der Macher und Entscheiderinnen: Fast alle sind, behaupten sie, unentwegt beim „Neu denken“, sich oder was auch immer neu zu „erfinden“. Man kann es nicht mehr hören, vor allem mit Blick auf die ganz überwiegend dürftigen Resultate: So neu gerät es ja in aller Regel dann doch nicht.

Nun sind das alles selbst Gedanken, die einem, so oder ähnlich, mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den Sinn kommen. Wie das Nachdenken über die großen Transformationen, die Folgen der Klimakrise oder der Digitalisierung. Die pandemischen Lockdowns und, mehr als das alles, die so nie erwartete Realität eines Kriegs in Europa sind Einschnitte, die jede „Normalität“ im Sinne eines Zustands vor 2020 als fernes Wunschbild erscheinen lassen. Weitermachen gilt nicht, auch nicht im Kulturbetrieb. Was aber geht, wenn Immersoweiter nicht mehr geht?

Gerade in so traditions- und vergangenheitsseligen gesellschaftlichen Subsystemen wie der „klassischen“ Musik, mit ihren besonderen (und oft auch gut begründbaren) Routinen, wäre zu hoffen, dass sich die Akteure dieses Betriebs, vom einzelnen Künstler bis zum Intendanten, auch wir als Kuratoren und Kritiker, nicht in dummen Routinen verschanzen, aus Bequemlichkeit oder Überforderung oder Erschöpfung. Gerade bei Mozart Wagner Verdi und so vielen anderen ist eine Menge zu lernen über die kreativ-produktiven Gegenkräfte, wenn es einen vor lauter Disruption schwindelt. Zurück-zu ist keine Option. Und Bangemachen gilt auch nicht. ¶

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