Natürlich, unser Leben um uns herum, alles, was uns passiert, hat einen Einfluss darauf, wie wir Musik machen.
Sir Simon Rattle, vor ein paar Wochen, als wir das London Symphony Orchestra mit ihrem Chef vom Grafenegg Festival gestreamt haben. Rattle dirigierte ein Leib- und Magen-Programm, Ravel, Bartók, Sibelius, ein bewegender Abend. Und, einmal mehr, die Begegnung mit einem außerordentlichen Künstler. Sir Simon ist ein Dirigent nicht nur mit dem Blick in die Partitur, nicht nur zu seinen fantastischen Musikern, sondern immer auch in die Welt um uns herum. Auf die Frage, ob die aktuelle Weltlage mitklingt, wenn er Musik macht: – natürlich! –
Dass wir als Musiker*innen durch den Lockdown nicht spielen konnten und das Wunder, wieder auf die Bühne zu dürfen, hat uns sicherlich alle an unsere Wurzeln erinnert. Viel schlimmer ist die Tatsache dass wir wieder einem Krieg in Europa ausgesetzt sind. Ich wohne in Berlin und deshalb ist es für mich noch präsenter, die riesige Welle an Geflüchteten war unmöglich zu ignorieren.
Zumal, wenn La Valse auf dem Programm steht, Ravels Weltuntergangswalzer.
...natürlich, La Valse ist eines der größten Kriegsstücke, denn es handelt von dem Zusammenbruch der europäischen Zivilisation. Es ist nicht nur ein orchestrales Salonstück, wie es den Winer Walzer dekonstruiert, auseinander nimmt und quasi auf Kollisionskurs schickt.
Sir Simon Rattle.
(Foto: Jim Rakete)Er spricht über La Valse, hundert Jahre alte Musik, und sofort auch über die Welt von heute, seine Sorge um Europa.
Es handelt auch davon, wie schnell Zivilisationen zerstört werden können. Und wenn man feststellt, dass man gerade in dieser Abwärtsspirale steckt, ist das Stück ein Totentanz. Viele von uns denken gerade darüber nach, was in Europa geschehen wird. Ich erinnere mich an all die Konversationen mit meinem Vater über die Ereignisse, die damals zum zweiten Weltkrieg führten und er mir sagte: "Du musst verstehen, rückblickend betrachtet war es sehr gut möglich bereits zu sehen, was passieren würde."
Und dann kommt er, von der Wahrnehmung der Gegenwart, doch wieder zurück zur Musik.
Die Dinge geschahen so kleinschrittig, dass man am Ende jeder Woche bemerkte, oh, eine weitere Grenze wurde überschritten. Das schwebt natürlich in unseren Köpfen und Musik sollte dazu da sein, diese Geschichten zu erzählen. La Valse ist 13 Minuten voller Eleganz und Raffinesse, aber genauso ist das Werk auch niederschmetternd und furchterregend.
Große Musiker sind nicht unbedingt kluge Zeitgenossen. Dieser ist beides. Ich erinnere mich an eine Begegnung Anfang der 1990er Jahre, in Birmingham, wo die Stadt dem sensationell begabten jungen Dirigenten des City of Birmingham Symphony Orchestra einen neuen Konzertsaal gebaut hatte. Schon damals sprach er, ansteckend begeistert, über Musikmachen als gesellschaftliches Engagement. Heute ist er ein Sir, Commander of the British Empire, die Locken sind grau geworden, die Welt dramatisch komplizierter, taumelnd wie in Ravels La Valse. Und Musik, die uns auf ihre Weise in Abgründe schauen lässt, noch wichtiger. ¶
Simon Rattle und das London Symphony Orchestra beim Grafenegg Festival 2022 mit u.a. Ravels "La Valse".
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