THE SOCIETY OF MUSIC: 1. September 2021

Salzburg, en woke

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Holger Noltze
Holger Noltze
01.09.2021

Gestern gingen die Festspiele in ihrem hundertersten Jahr zu Ende. Kurz vorher erinnerte man an das vor Jahren untergegangene Format der Festspiel-Dialoge: die Idee, die Exzellenz der künstlerischen Praxis in der Oper, im Konzert und Schauspiel, mit Reflexion, Gedankenarbeit mit vergleichbar hohem Anspruch zu begleiten. Es ging um die ganz großen Fragen. Zwanzig Jahrgänge solcher Dialoge sind zusammenkommen, an deren bemerkenswerte Flugbahnen ein dicker Band erinnert. In der Residenz gab es dazu ein kleines Symposium, eine Art re-enactment, und gleich der Eröffnungsvortrag der famosen Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann entfachte ein raffiniertes Spiegel-Spiel in der Doppelperspektive auf die Idee von Festspielen als Ort und Medium kulturellen Gedächtnisses. Warum wir das brauchen, zur Selbstvergewisserung nämlich, und was den Unterschied von Erinnern und „Speichern“, der nur technischen Sicherung von Daten, ausmacht, wurde glänzend klar; dass in der Aufzählung der über das Alltägliche hinausweisenden Wunderwirkungen ästhetischer Erfahrung neben den zeitgemäßen Wunsch-Effekten Immersion und Resonanz auch das eher ins 19. Jahrhundert gehörige Konzept Kunstreligion wie nebenbei auftauchte, konnte verblüffen. Denn um Anbetung welcher Art immer will es hier doch wohl eben nicht gehen, weder dem Intendanten noch der Präsidentin.

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Luigi Nonos Intolleranza 1960 bei den Salzburger Festpielen.

(Foto: SF / Maarten Vanden Abeele)

Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser hatten sich zuvor noch als Begrüßungsredner abgewechselt, eine der letzten Gelegenheiten in dieser Konstellation, denn Rabl-Stadlers Zeit als Präsidentin endet. Mit dem Intendanten Gerard Mortier hatte sie 1995 begonnen, mit dem Künstler-Intendanten Hinterhäuser endet sie, und glückhaft, den Festspielen gelingt die Spannung zwischen Kunst und Kulinarik, Mozart und Mozartkugel, fast immer elegant und höchst eigenartig. Zu den Salzburger Wundern dieses Jahrgangs gehörten etwa Franz Welser-Mösts weiter verfeinerte Kunst, die Elektra-Gewalten klug zu bändigen, zum Wohle seiner Sänger:innen, und wenige Tage darauf, die gleichen Philharmoniker von Ingo Metzmacher sicher und engagiert durch Nonos Intolleranza 1960 navigiert zu erleben. Mit allen Mitteln perkussiver Entfesselung wie zartester Klangkunst mobilisiert Nonos Nicht-Oper die Empörung gegen Unmenschlichkeit, den Skandal des Wegsehens an der Not Flüchtender und Gefolterter. Doch während Jan Lauwers Tänzer:innen ihre Kreise drehen und einen choreographischen Ausdruck dafür suchen, was Menschen einander antun, kommen einem die Dramen am Flughafen von Kabul in den Sinn, so viel komplizierter und erschütternder als Lauwers hier bloß plakatives, gegen die Wirklichkeit bloß oberflächlich wokes Rumlauf-Theater.

Wie hätte ein Mortier auf solche gespenstische Gleichzeitigkeit geschaut? – Salzburg wäre der Ort, so wirklich schwere Fragen zu stellen. Die Dialoge sollten weitergehen, wir brauchen das. ¶

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