THE SOCIETY OF MUSIC: 18. August 2021

Plötzlichkeit

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Holger Noltze
Holger Noltze
18.08.2021

Anfang des Monats kam aus London, seiner Stadt seit langem, die Nachricht vom Tod des Literaturkritikers und -wissenschaftlers Karl Heinz Bohrer, mit 88 Jahren. Bohrer war bis 1974 Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; nach der Abschiebung als Kulturkorrespondent nach London begann er ein zweites Leben als Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld, habilitierte sich mit einer Arbeit über Die Ästhetik des Schreckens zum Frühwerk Ernst Jüngers. In den Nachrufen auf diesen eminenten Verteidiger einer ästhetischen Erfahrung von Kunst, die sich der Indienstnahme durch Politik oder Moral entzieht, fand sich der Hinweis auf einen Essayband aus dem Jahr 1981, dessen Titel mich elektrisierte: Plötzlichkeit. Das wollte ich lesen. Das Internet meldete allgemeine Vergriffenheit des alten Suhrkamp-Titels, zum Glück gibt es Bibliotheken. Am Nachmittag hatte ich es.

»Plötzlichkeit verstanden als Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität und Nichtidentischem, was immer sich der ästhetischen Integration sperren mag.«

Aus: »Plötzlichkeit: zum Augenblick des ästhetischen Scheins«, Karl Heinz Bohrer, 1981.

Steht da gleich auf der ersten Seite. Dann viel über die Frühromantik, Nietzsche, Adorno, über die Lahmheit der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart von 1981, Grass, Böll, Frisch, es finden sich zuspitzende Re-Lektüren von Cervantes und Kleist. Wenn ich es recht sehe: kein Wort über Musik. Nun war Bohrer ein Mann des Worts, aber wo er soviel, so scharf und intellektuell unabhängig über Ästhetik nachdachte, ist die Ausblendung der Musik bei einem solchen Kopf doch ein Jammer. (Was nichts über seine vielleicht nur unpublizierten musikalischen Passionen sagen will.)

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Er war ein unerschrockener Denker: Karl Heinz Bohrer (1932-2021).

(Foto: Public Domain)

Zumal diese Kategorie der Plötzlichkeit, als Einbruch des Inkommensurablen, Unvergleichlichen, Unmess- und Unwägbaren, eine Erfahrung zum Begriff bringen hilft, die zum Erlebnis von Musik doch essenziell gehört. Mahlers Durchbrüche, Schuberts Stillstände, Mozarts Höllenfahrten, Beethovens Wut, Wagners Liebe/Tod-Rasereien, Bernd Alois Zimmermanns Zeit-Implosionen, Stockhausen und Messiaen, Ives und Ustwolskaja und so noch viel weiter: Musik weiß viel über den Schrecken, die Überwältigung und Lust an Plötzlichkeiten, am eben nicht Vorhergesehenen oder Vorhersehbaren. Und nicht nur auf Ebene der Werke, sondern auch der Aufführung. Vielleicht ist man dem Faszinosum mancher Aufnahmen Furtwänglers, Momente, bei Brahms, Beethoven, Bruckner, auf der Spur, wenn sich ereignet, was man nicht hatte kommen sehen. Im laufenden Betrieb der „klassischen“ Musik kommt es selten vor.

Dies als bescheidener Vorschlag, den unerschrockenen Denker Karl Heinz Bohrer für die Musikästhetik zu entdecken, nun postum. Wir können ihn ja nicht mehr fragen. ¶

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