Verrückterweise lese ich gerade Tolstois Krieg und Frieden, ein dickes Buch, man ist eine Weile damit beschäftigt, und meine Lektüre begann, bevor der neue Krieg uns so nah kam. Als Putins Armee die Ukraine überfiel, war ich gerade beim Einzug der Franzosen in das unwirklich verlassene Moskau, und ich mochte für ein paar Tage nicht weiterlesen, die aktuellen Bilder nicht mit dem 150 Jahre alten Roman über Napoleons Russlandfeldzug vor mehr als zweihundert Jahren überblenden. Jetzt aber lese ich weiter, fasziniert von Tolstois tiefer Mikroskopie seiner Figuren wie von der Riesenarchitektur des Ganzen.
Dmitri Schostakowitsch: Ein Komponist unter ständigem politischen Druck.
(Foto: imago / Everett Collection)Beim Scrollen durch die takt1-Mediathek fällt mir gerade auf, wie viel russische Musik da drin steckt und uns ja selbstverständlich umgibt, soviel wichtige Musik von Tschaikowsky, Strawinsky, Prokofjew, Schostakowitsch, Rachmaninow. Tatsächlich keinen Moment käme mir in den Sinn, diese große russische Kunst, die oft genug nicht ohne das Leiden an russischer Politik zu verstehen ist, das alles nicht mehr hören zu wollen oder zu können, aus Aversion gegen ein „Russisches“, auf das sich der Diktator, Lügner und Kriegsverbrecher Putin empörenderweise beruft. Dass er jetzt dem Westen das „Canceln“ russischer Kultur vorwirft, ist doppelt verkehrt, denn, nach einer Schrecksekunde hier und da, wurde auch im westlichen Musikbetrieb klar, dass Putins Politik mit Tolstoi und Tschaikowsky nicht nur nichts zu tun hat, sondern die Perversion darin liegt, dass er glaubt, sich auf „russische Kultur“ berufen zu dürfen. Das alles ist nicht neu, natürlich nicht, wir kennen ja die Indienstnahme Beethovens für das, was in Hitlers Reich als „deutsche Kultur“ in Stellung gebracht wurde.
Viele russische Menschen haben das Bedürfnis, sich gegen das Regime zu positionieren, im eigenen Land gehört dazu großer Mut. Russische Künstler*innen, von denen so viele im Westen arbeiten, erklären ihren Einspruch gegen einen Krieg, der nicht ihrer ist. Ich wünsche mir, dass solche Positionierungen nicht auf gefühlten oder tatsächlichen Druck geschehen, sondern vor allem aus Solidarität mit den Ukrainern, die gerade Gewalt im Namen des russischen Regimes erleiden. Valeri Gergievs Nähe zu diesem Regime machte in diesem Fall eine Entscheidung für eine Seite nötig. Er hat sich entschieden, traurigerweise. Zu den Werten, die wir Putins Autokratie entgegenhalten, gehört die Freiheit des Denkens und die Freiheit, zu sagen, was man denkt. Auch das gute Zuhören, die Aufmerksamkeit für die vielen Töne zwischen Schwarz und Weiß.
Man kann dem geschichtsversessenen russischen Präsidenten die Lektüre des russischen Klassikers Krieg und Frieden nur dringend empfehlen, die Geschichte eines überfallenen Landes und des katastrophalen Rückzugs der Invasoren. Bis zum Ende. ¶