Vielleicht, sagt der Schriftsteller Max Czollek, schrieb die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT vor ein paar Wochen, vielleicht sei er ja der Totengräber des klassischen Kanons; er sagte es im Rahmen des Liedfestivals HEIDELBERGER FRÜHLING, und er soll dabei gegrinst haben. Dass er gekommen war, ja womöglich eingeladen, um zu stören, wird klar. »Es sind schon gewisse Leute, für die Klassikfestivals bislang ihr Programm machen“, wird Czollek zitiert:
»Das sind, überspitzt gesagt, bürgerliche, wohlhabende Westdeutsche«,
für die Leute in seinem Umfeld seien diese Programme eher nichts. Der klassische Kanon grenze aus, sei ein Vehikel kultureller Überlegenheitsfantasien und hätte »den deutschen Nationalismus ästhetisch vokabularisiert.«
Keine Frage, dass die deutsche Kultur und vor allem die deutsche Musik nicht erst im Reich des grässlichsten Wagnerianers aller Zeiten in Dienst genommen wurde, um deutsche Superiorität auch mit Bach und Beethoven zu belegen, und für die deutsche Seele war dann das großdeutsche Kunstlied zuständig, will sagen inklusive Schubert. Der Exklusions-Kanon gelte, so Czollek, auch für die Bundesrepublik nach 1945: Das Ausgrenzen etwa jüdischer oder migrantischer Perspektiven war »die Voraussetzung, um die Fantasie einer Kunst als autonomer, kontextloser Ort neu zu erfinden.« Für ihn kann Kunst nicht im Dienst einer »Gesellschaft der Versöhnung und des regulierten Erinnerns« stehen, das ja immer zugleich ein Vergessen bedeute. Außerdem: Von der Idee reiner Schönheit könne man sich sowieso verabschieden.
Sorgt noch immer für Diskussionsstoff: Der "Klassik-Kanon".
Bei aller grundsätzlichen Sympathie für Störungsversuche, was die Friedhofsruhe der klassischen Musik angeht, ihren Dünkel, ihre Selbstzufriedenheit, ihre Einfallslosigkeit im Repertoire und den Darreichungsformen: Die angekündigte Kanon-Zertrümmerung geht mir hier doch etwas fix. Dass der Dichter Heine und der Gesamtkunstwerker Wagner in einem Kanon Platz haben könnten: für Czollek undenkbar: »Heine war Widerstandslyriker, schon er macht jede Idee eines einheitlichen Kanons kaputt.« Zu Wagner steht da schon gar nichts mehr, denn der war ja ein bekannter Nazi. Fraglos war der eine Opfer antisemitischen Ungeistes, der andere fraglos Täter. Das muss man wissen, es gehört zu den Kontexten, deren Fehlen oder Ausblenden Czollek zu Recht kritisiert. Aber Heine ist bestimmt mehr als nur „Widerstandslyriker“, was immer das sein mag, und Wagner ein furchtbarer Antisemit, daran darf man nicht vorbeisehen, man darf aber auch den revolutionären Künstler nicht übersehen. Die Behauptung eines »einheitlichen Kanons« ist ohnehin ein Schnee von gestern. Kanon ist die nie endende (und bitte nicht folgenlose) Diskussion darum, und immer auch über das, was fehlt.
Zu den Erkenntnissen der Moderne, nicht erst der Postmoderne, würde ich zählen, dass es die eine Identität nicht gibt, wir sind (alle) viele zugleich. Der grassierende Hang zum Etikettenkleben, die Lust an der Platzanweiserei, von welcher Seite immer, ist mir suspekt. Kanondebatten waren nie unideologisch, und das gilt, will mir scheinen, für ihre Aufrichter ebenso wie für ihre Zertrümmerer oder Totengräber. ¶