THE SOCIETY OF MUSIC: 27. Mai 2020

In Wunderkammern

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Holger Noltze
Holger Noltze
27.05.2020

In der letzten Woche erschien ein Buch, in dem ich versuche, die Herausforderungen der digitalen Revolution (ja, es ist eine) auf den Musik- und Kulturbetrieb zu beschreiben. Es enthält eine These: Wir haben das Internet noch nicht verstanden. Gerade wem das traditionell Analoge teuer ist, den Klang eines Steinway im gleichen Raum mit einem großen Pianisten zu erfahren, das ganze sinnliche Erleben der Hervorbringung von Kunst und ihrer Begleitumstände, gerade wer ästhetische Erfahrung als differenziertes Geschehen begreift, tut sich mit der Verwandlung eines künstlerischen Ereignisses in einen Datenstrom naturgemäß schwer. Zumal das Internet als Habitat von Katzenbabybildern, Hass, Dummheit, Pornografie und Nichtigkeiten aller Art korrumpiert ist. Schwer, daran vorbei zu sehen.

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Es ist ja alles da, überreichlich, überfordernd.

(Foto: Public Domain)

Mein Gegenvorschlag dennoch: Genau das zu tun, die Chancen des Mediums genauer zu erfassen, zielt darauf, nicht der Banalität und Bosheit das Feld zu überlassen, sondern mit Einfallsreichtum, mit Verständnis für Technik und „guten Inhalt“ auf ein Medium zu antworten, dessen Möglichkeiten wir kaum erst erahnen.

Darüber hatte ich nun einige Monate recherchiert und nachgedacht, und mir war als Versprechen darauf, was das Netz können könnte, auch mit Blick auf einen Gegenstand wie klassische Musik, das Konzept der „Wunderkammer“ begegnet: jene barocken Sammlungen, in denen die Kuriosa der Welt zum staunenden Beschauen nebeneinander in allerhand Schränken, Vitrinen, an vollgehängten Wänden zusammengetragen wurden, in immer neu scheiternden Versuchen, in diese wundersame Vielfalt so etwas wie Ordnung zu bringen. Das World Wide Web erscheint mir als Wunderkammer des Schönen und Schrecklichen, es ist ja alles da, überreichlich, überfordernd. Es kommt darauf an, das Richtige zu finden. Und „Kuratierung“, die sachverständige wie liebende Begleitung und Erschließung von wertvollen Inhalten, die Hilfe zum Finderglück, das Herstellen von Zusammenhängen, ist der Schlüssel zu solchen Wunderkammern.

Der ganz unwahrscheinliche Zufall wollte es, dass der große Lockdown an dem Tag kam, als das Manuskript abzugeben war. Ich schrieb die letzte Seite neu und setzte eine Fussnote an den Anfang, eine Art Corona-Rahmung mit Fragezeichen. Jetzt ist das Buch da. Zehn Wochen später hat die Wirklichkeit die Verhältnisse in einer Weise zugespitzt, die ich kaum für möglich gehalten hätte: Digital ist das neue Normal, und der Vorschlag, es besser zu verstehen und klüger zu nutzen, beherzt den Schritt in die neuen Wunderkammern zu tun, selbst wenn man sich etwa für zweihundert Jahre alte Kunst interessiert, klingt jetzt anders: Wir sollten nicht nur, wir müssen wohl. 

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