THE SOCIETY OF MUSIC: 1. Dezember 2021

Hannigan

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Holger Noltze
Holger Noltze
01.12.2021

Bergs Lulu, 2012 in Brüssel inszeniert von Krzysztof Warlikowski, war eine Tat, hyperambitioniert, supersimultan-assoziativ, ein Wühlen in den Psycho-Untergeschossen, an denen dieses Stück unter seiner Kolportage-Außenhaut so besonders reich ist. Lulu ist die Geschichte vom „Aufstieg“ (in Anführungsstrichen), aber zweifellos vom Fall des weiblichen Objekt des Begehrens, an dem sich Männer rächen dafür, dass sie an ihm schuldig wurden (Karl Kraus). Sie macht multiplen Missbrauch sichtbar, es gibt aber auch einen unsichtbaren, denn was wirklich geschah im Hause des Dr. Schön, als er einst die zwölfjährige Blumenverkäuferin in sein Haus nahm, können wir ja nur ahnen.

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Barbara Hannigan als Lulu.

(Foto: Simon van Rompay)

Seit 2012, spätestens seit #MeToo, ist die Sensibilität für die Abgründe des Zwischenmenschlichen gewachsen, und richtig so. Die Ausstellung der Körper der Kinder und Jugendlichen in der Glasbox, die zeigt, was sonst nicht zu sehen ist, könnte man auch skandalös finden; tatsächlich ist das, als szenischer Flucht- und Kontrapunkt zu Lulus Schicksal, schwer erträglich, aber Warlikowski hat für das Remake nichts zensiert und zurückgenommen, und auch das ist gut so. Es wurde, andersherum, weitergearbeitet, differenziert, zugespitzt, und vielleicht sehen wir die Brisanz dieses langen Abends heute sogar deutlicher als vor ein paar Jahren. Insofern: Keine Wiederaufnahme, kein Blick ins Musiktheatermuseum, sondern eine Vertiefung, ein Weiterwühlen aus guten Gründen: Wir sind mit Berg/Wedekinds Lulu-Lektionen noch lange nicht durch.

Barbara Hannigan singt das “Lied der Lulu”

Die Sensation der Brüsseler Aufführung ist – immer noch, wieder und mehr denn je – die Lulu der Barbara Hannigan. „Sie sind unglaublich“, bricht es ja einmal aus Alwa heraus, genau so ist es. Die Hannigan, ohnehin ein singendes, dirigierendes Doppelwunderwesen, hat sich die Partie, scheint es, noch einmal von Grund auf vorgenommen. Es gibt sicher keine Sängerin auf der Welt, und gab es sie je?, die gleichzeitig so lässig in den oberen Hilfslinien turnt und dabei zum Beispiel auf Spitze tanzen kann. Das verlangt die Regie immer wieder und nicht nur momentweise, denn der Spitzentanz ist hier eine zentrale Metapher. Auch jenseits solcher Akrobatik bringt Hannigans Lulu, freier denn je, eine körperliche, stimmliche, mimische, gestische Ausdrucksvielfalt mit, die diesen eigentümlichen Sound zwischen Uneigentlichkeit und Direktheit mit schnellsten Wechseln frappierend genau trifft. Rasend hin und her zwischen Kleinmädchen-Quengelei und Luxusweibchen-Posing, zwischen Stöckeln und Stampfen, Verführen, Verstoßen, und Verletzen, street cred-power und dem Blick in das große Nichts. Diese Lulu ist, keine Frage, unglaublich. Unvergleichlich, eine Klasse für sich. ¶

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