THE SOCIETY OF MUSIC: 1. Februar 2023

Fehler im System

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Holger Noltze
Holger Noltze
01.02.2023

Ich freue mich schon auf ein Radiogespräch mit der großartigen Geigerin Carolin Widmann, eigentlich die Fortsetzung einer Plauderei am Rande des Mozartfests in Würzburg: Es ging darum, wie es in der klassischen Musik um das bestellt ist, was im modernen Management als Fehlerkultur bezeichnet wird. Wir fanden: schlecht! Wer heutzutage ein „klassisches“ Konzert besucht, erlebt in der Regel Absehbares: Musikerinnen und Musiker sind vorbereitet für weitgehend fehlerfreie Aufführungen. Falschspielen ist verboten. Längst haben wir uns an die Gewissheit gewohnt, dass alles klappt. Ein Hornkiekser im Orchester ist in der Regel schon das Äußerste an Fauxpas. Was aber ist der ästhetische, der künstlerische Preis der Perfektion? Wird zu sehr „auf Nummer Sicher“ gespielt, und wie steht es um die produktiven Aspekte von Fehlern? Ist der Drang zur Fehlerlosigkeit selbst ein Fehler im System?

Dass die hysterische Vermeidung von Fehlern das Lernen, die Möglichkeiten, etwas Neues zu erfahren und zu entdecken behindert, ist längst gesichertes Wissen, wenn es um Business oder um Wissenschaft geht. In der Musik, namentlich der nach Noten, herrscht aber immer noch ein strenger Drill: bloß nichts falsch machen!

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Lässt Fehler gerne zu: Carolin Widmann.

(Foto: WDR)

Carolin Widmann ist eine gute Gesprächspartnerin für das Thema, nicht weil sie viele Fehler macht, sondern weil sie auf ihrer letzten CD L’Aurore bewusst auf das übliche kleinteilige Korrigieren der Aufnahmen (auch bei „live“-Mitschnitten) verzichtet hat. Das künstlerisch erfreuliche Resultat ist ein lebendiges, spannungsvolles Musikmachen, bei dem Zuhörer unmittelbar am Gelingen eines besonderen Moments dabei sein darf. Von steril-pseudofehlerfreien Aufnahmen etwa von Bachs Chaconne gibt es mehr als genug, das hier ist anders. Um das Wort zu wagen: authentischer.

Eben fahre ich im Zug im Stuttgarter Hauptbahnhof ein, da stand bis zur Sanierung 2020 der schöne Hegel-Satz über dem Eingang, „DASS DIESE FURCHT ZU IRREN SCHON DER IRRTUM SELBST IST“.

Recht hatte der große Philosoph. Und auch wenn niemand dauernd falsche Töne hören mag: Etwas mehr produktive Fehlertoleranz täte der Musik nicht schlecht. Wir werden die Sendung mit einer Chopin-Aufnahme von Alfred Cortot aus dem Jahr 1926 beginnen. Soviel falsche Töne! Und so viel richtige! ¶

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