THE SOCIETY OF MUSIC: 29. März 2023

Es lebe Gelsenkirchen

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Holger Noltze
Holger Noltze
29.03.2023

Das Haus ist ein Wunder, immer noch. Zur Stadt hin, zur grauen Wirklichkeit des langen und mühevollen „Strukturwandels“ der einst grandiosen montanindustriellen Vergangenheit, öffnet sich das „Musiktheater im Revier“ als einzige Glasfassade. Wenn gespielt wird, in der Abendbeleuchtung, schaut man hinein ins Treppenhaus, vor allem in die großzügigen Foyers rechts und links, und in schöner Unwirklichkeit strahlen von den Seiten- und Rückwänden die weltgrößten Monochrome-Tafeln des genialen Yves Klein, Erfinder des „Yves-Klein-Blau“, hinaus in eine Welt, die solchen Blicken in ein schöneres Anderes so sehr bedarf. Sie sind, mehr als sechzig Jahre nach der Eröffnung des Hauses, immer noch sensationell, auch unter der leichten Staubschicht, die sich auf die Schwammreliefs gelegt hat.

musiktheater im revier

Ein Blick hinter die Glasfassade: der Gelsenkirchener Saal von innen.

(Foto: Michael Rasche)

Das Gelsenkirchener Musiktheater, kühn entworfen von dem Architekten Werner Ruhnau war 1959 eine Tat, und dass es, Zeitenwenden später, immer noch spielt, dass Yves Kleins Blau immer noch so hinausstrahlt ins Grau, ist es vielleicht noch mehr. An diesem Abend steht Janáčeks Das schlaue Füchslein auf dem Programm, inszeniert und anrührend erzählt als Waldmärchen mit existenziellem Subtext vom Hausherrn Michael Schulz. Seit 2008 ist er Intendant, das ist vergleichsweise eine Ära. Und das Publikum an diesem Abend, keineswegs die Premiere, ist neugierig, es ist ziemlich gemischt und ziemlich jung, es ist auch ziemlich aufmerksam und folgt dem akkurat dargebotenen (und hier unvermeidlichen) Tschechisch, freut sich an den einfallsreichen Wundertieren, die in diesem Zauberwald begegnen, und lacht, wenn es lustig ist. Das ziemlich junge Ensemble zeigt große Klasse, und das Orchester schlägt sich wacker durch Janáčeks rhythmische Vertracktheiten. Als Förster ist an diesem Abend der als Bariton wie als Darsteller überragende Johannes Martin Kränzle zu erleben, überragend und doch selbstverständlicher Teil des Ensembles.

Kränzles Revirnik zu sehen war ein Anlass, mal wieder nach Gelsenkirchen zu kommen. Es hat sich gelohnt, und nicht nur deswegen. Das Musiktheater leuchtet strahlend blau in eine verdunkelte Welt. Es steht für vieles, was das deutsche Stadttheatersystem, ob mit oder ohne Weltkulturerbe-Zertifikat, so wertvoll macht. Auf der Rückfahrt fiel mir ein Lieblingssatz ein, er findet sich im Briefwechsel zwischen dem Essener Architekten und dem Maler-Star aus Paris. »Es lebe«, schreibt Klein da an Ruhnau, »es lebe die europäische Situation von Gelsenkirchen!« – Voilà! ¶

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