Society of Music: 6. Januar 2021

Die Welt nach Wagner

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Holger Noltze
Holger Noltze
06.01.2021

Das englische Original heißt einfach Wagnerism, im Deutschen raffinierter Die Welt nach Wagner.
Raffinierter, weil das „nach“ einerseits zeitlich zu verstehen ist: was geschah mit Wagners Werk, nachdem das Leben zu Ende war. Das war, lernen wir auf neunhundert Seiten, eine Menge. Andererseits steckt darin auch der Anspruch, die (ganze) Welt, jedenfalls nicht nur die der „Oper“, durch die Wagnerbrille und die Wagnersche Weltdeutungsambition zu sehen. Für viele war und ist das eine verlockende Perspektive, und das Verrückte ist, wie vielfältig, ja widersprüchlich zueinander steht, was man da zu sehen bekommt. Von reaktionär rechts und gewaltbereit faschistoid über praktisch alle politischen Zwischenstufen bis radikal links, Erlösungen aller Art versprechend, viel fauler Zauber inklusive. Stur rückwärtsgewandt bis avantgardistisch, frauen- und judenfeindlich bis zu Visionen eines gerechten Miteinanders, auf die Gesellschaft bezogen oder als Angebot, sich aus der Welt in Privatmythologien hinauszuträumen. Wer sich nur ein wenig mit dem Wagner-Kosmos befasst hat, ahnt es, hier aber ist es einmal in erschlagender Fülle ausgebreitet, ein Wahnsinn.

wagner alamy

Maestro Wagner bei der Arbeit.

(Foto: Alamy)

Der Jahresend-Lockdown ist die Gelegenheit, dicke Bücher zu lesen, und auf etwas Neues des geschätzten Alex Ross, Musikkritiker des New Yorker, ist man neugierig spätestens seit seiner inspirierenden Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts The Rest is Noise. Ich gestehe, wir sähen Alex gern als Kolumnisten bei takt1, vielleicht klappt das ja eines Tages.

Imponierend und wagemutig ist der Ansatz des Buchs, die annähernd kakophonen Nachklänge des Wagnerwerks nicht nur an den bekannten Beispielen des französischen (Baudelaire, Mallarmé), katalanischen, englischen, amerikanischen Wagnerismus zu erzählen, nicht nur die schon so oft gestellten Fragen, wieviel Wagner in Hitler, wieviel Hitler womöglich in Wagner stecke, einmal mehr auszubreiten, sondern auch den krudesten Nebenwegen zu folgen, auch dem Afro-Wagnerismus Aufmerksamkeit zu widmen, der Tragik der 1896 beinah ersten Schwarzen Bayreuther Walküre Luranah Aldridge Raum zu geben. So viele Geschichten, der Welt-Wagnerismus kommt einem vor wie ein gigantisches Multiplexkino von Projektionsflächen aller Erdenklichkeit.

Der Lockdown muss noch etwas dauern, bis ich mit Ross‘ dickem Buch durch bin. Am Rand stehen schon viele Ausrufe- und nicht wenige Fragezeichen. Der vielleicht unvermeidliche Wechsel von der Vogel- zur Mikroperspektive, der Wunsch, auch Nicht-Wagner-Leuten nebenbei zu erklären, was im Tannhäuser oder im Ring passiert, hat seinen Preis. Vieles bleibt unscharf bis fast-falsch, manches Etikett passt nur ungefähr, gelegentlich fällt es schwer, den Wald vor Bäumen zu erkennen, den großen Bogen im Blick zu halten. Und weil es um Wagners Wirkungen nicht nur auf Politik, Literatur, Musik und Theater, sondern auch auf bildende Kunst, Architektur, Mode geht, wünschte man sich noch viel mehr Bilder.


Vielleicht auch eine entschiedener subjektiv ordnende Hand. Mehr Alex, der (ich habe vorgeblättert) am Ende bekennt, bei Wagner anfangs von einer Art „auditiver Seekrankheit“ befallen worden zu sein, bevor sich seine Sicht zu einer „leidenschaftlichen Ambivalenz“ wandelte. Auf den Trümmern eines überständigen Geniekults erscheine Wagners Werk als zerbrechlich und instabil, etwas, an das wir uns nicht unkritisch halten sollten. Als Aufruf zu einem in diesem Sinne aufgeklärten Wagnerismus aber ist sein Buch: eine Tat. Wir sollten es zu Ende lesen. ¶

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