Ganz am Ende hat er nicht mehr spielen können, und es war nur zu ahnen, was dieser Abschied vom Klavier für einen wie ihn bedeutete. Das allerletzte Konzert, August 2018, in der Elbphilharmonie. Zuhause in London danach nur noch weniges, Kinderszenen, für sich und Lady Annabelle Weidenfeld, seine späte Liebe. Ein Brahms-Intermezzo, das sie sich gewünscht hatte. Irgendwann dann nichts mehr. Wenn man Menahem Pressler fragte, was seine Kunst ausmacht, dann sprach er immer wieder und viel vom Üben, das für ihn nichts Mechanisches war, sondern eine besondere Verbindung von Disziplin und Hingabe. Und Ausdauer.
Menahem Pressler (* 16. 12. 1923, † 6. 5. 2023)
Er wurde geboren als Max Menahem, am 16. Dezember 1923, in Magdeburg. Die Eltern führten einen Laden, „Hosen Pressler“. Schon als kleiner Junge war er vom Klavier nicht wegzubekommen. Das Instrument öffnete dem Jungen eine Welt der Schönheit. Beethoven, Schumann, seine Musik hatte Bestand auch gegen den wachsenden Lärm der Nazis, noch als in der „Reichspogromnacht“ der Laden geplündert wurde. Er übte, und vielleicht war es seine Form des Widerstands. Die Angst, sagte er später, kam nicht in die Nähe des Klaviers.
Menahem Pressler, der mit Eltern und Geschwistern aus seiner Heimat getrieben wurde, der 1939 auf dem letzten Schiff nach Palästina fliehen konnte, während viele seiner Familie ermordet wurden, der in Tel Aviv vor Schwäche und Erschöpfung zusammenbrach, mitten in einer Beethovensonate – er wurde bis zuletzt nicht müde, über das Glück des Lebens und der Musik zu sprechen, auch vom Glück seiner Kindheit.
Von Anfang an hatte er Glück mit seinen Lehrern, zu denen gleich drei direkte Schüler von Ferruccio Busoni gehörten, und Menahem Pressler war stolz auf die Verbindung zu einer Pianistentradition, die Virtuosität in den Dienst tieferer Erkenntnis großer Werke stellte. In Israel hört Pressler von einem neuen Klavierwettbewerb im fernen San Francisco, der ausschließlich den Werken von Claude Debussy gewidmet war. Er macht sich auf den Weg, lernt das letzte Pflichtstück, ohne Klavier, lesend im Zug, erreicht San Francisco am Tag vor dem Wettbewerb, spielt unter 64 Konkurrenten hinter einem Vorhang, als Nummer 2. Darius Milhaud, prominentes Mitglied der Jury, ist tief beeindruckt von der Musikalität, dem Wissen um Tradition und Klangschönheit der mysteriösen Nummer 2. Max Pressler, der junge deutsche Emigrant aus Israel, macht das Rennen.
Ab jetzt spielt er in einer anderen Liga. Dazu gehört ein Debüt in der Carnegie Hall, bald steht sein Name in großen Buchstaben auf den Plakaten, und da steht nun „Menahem Pressler“. Es ist ein Bekenntnis zum Staat Israel. 1955 biegt er von der Solistenlaufbahn ab und wird der junge Mann am Klavier des bald berühmtesten Klaviertrios der Welt. Es nennt sich „Beaux Arts Trio“ und entdeckt dieses besonders wunderbare Genre der Kammermusik neu. Es wird eine lange Geschichte. Das Trio besteht mehr als fünfzig Jahre, die Geiger und Cellisten wechseln, der Pianist mit dem besonders schönen Ton bleibt.
"Was heißt Verinnerlichung? Die Musik gewinnt ein Bild, dessen Schönheit Dich blendet, wenn du es zum ersten Mal siehst, sagst du, lass mich das Bild weitersehen. Man sagt, ach!, und bevor du ach! sagst, ist das Bild weg. Du musst es weitersuchen, das tat ich auch."
Für Menahem Pressler war Klavierspielen eine Suche nach Schönheit, als Kammermusiker, als Lehrer an der Universität von Bloomington, Indiana, und auf erstaunliche Weise wieder als Solist. Als das Beaux Arts Trio 2008 aufhörte, da fing Menahem Pressler, mit fast 90 Jahren, noch einmal als Solist an, er wurde der älteste konzertierende Pianist der Welt. Die Magie seines Tons blieb ihm auf wundersame Art erhalten, er sprach und spielte in einer fast vergessenen Sprache. Ein körperlich kleiner Mann und großer Musiker, der das Staunen nie verlernt hat. Während das Vereinigte Königreich Charles III. krönte, ist Menahem Pressler in London gestorben, es fehlten ihm noch ein paar Monate zum hundertsten, aber was sind schon Zahlen. ¶