Zuletzt habe ich hier einen Klassiker der russischen und Weltliteratur empfohlen, Tolstois Riesenroman Krieg und Frieden. Heute gleich noch eine Lese-Erfahrung, diesmal eine Neuerscheinung. Flammen, des deutschen Musikschriftstellers Volker Hagedorn, „Eine europäische Musikerzählung 1900-1918“. Es gibt gerade ein Interesse an historischen Werken, die sich ein Jahr oder einen markanten Zeitraum als Ausgangspunkt einer Querschnitts-Darstellung nehmen, 1813 oder 1923 oder 1789, und manchmal gelingt dabei ein neuer Blick, nämlich auf Zusammenhänge, die man so noch nicht gesehen und bedacht hatte, auf die Querverbindungen etwa von politischer und Technik- und Mentalitätsgeschichte, das spannende Nebeneinander von Wirtschaft und Kunst und Wetter und was immer.
Hier also „1900 bis 1918“, wobei die ersten und die letzten Jahre dieses Zeitraums kaum vorkommen, Hagedorn nimmt vor allem die Vorkriegszeit in den Fokus. Er hat, als er das schrieb, nicht ahnen können, dass man seine Erzählung dieses besonders dichten Ausschnitts Musikgeschichte, in denen soviel Neues, Aufregendes zur Welt kam, Pelléas und Sacre und Schönbergs epochales Streichquartett, das „luft von anderem planeten“ witterte, heute beklommen liest, mit dem Gedanken an einen Krieg vor der Haustür, der Bedrohung dessen, was man sicher glaubte, und zu sehen, dass auch unsere Ahnen vor hundertund Jahren einen Weg gesucht haben, böse Ahnungen und Alltag irgendwie zusammenzuleben.
Protagonistin in Hagedorns Buch: Ethel Smyth.
(Foto: Alamy)Hagedorn ist Musiker, das ist gut, denn er kann en détail und prägnant über Musik schreiben, mit dramaturgischer Eleganz wechselt seine Vorkriegsmusikgeschichte einerseits zwischen den Metropolen Paris Berlin London Wien, aber auch zwischen den beiden gut gewählten Hauptfiguren seiner Erzählung, der englischen Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth und dem französischen Erfinder einer neuen Musik Claude Debussy. Strauss, Strawinsky, Schönberg und die Seinen kommen auch vor, und man staunt, wie oft sich die wichtigen Agenten der Moderne dann doch sahen, sprachen, oder telefonierten oder zu Abend aßen. Der große Adorno hat uns Strawinsky und Schönberg so sehr als Antipoden erklärt, dass die Vorstellung, das die beiden sich auch als Kollegen begegneten, fast verblüfft.
Der Autor ist außer von Musik fasziniert vom historischen Verkehrswesen und teilt sein Wissen gern. „Für 10 Centimes konnte Debussy mit der TN bis zur Étoile fahren und dort umsteigen in die TB bis zum Parc Monceau nahe seiner Wohnung.“ An so einer Haltestelle treffen wir den Nahverkehrsnutzer Debussy. „Da kommt meine Tram“, sagt Debussy, schreibt Hagedorn, und dann kommt sie auch, „schwer rumpelnd“, es kommt, genauer, der „zweistöckige Vierzehn-Tonnen-Akku-Wagen mit dem Linienschild ‚TN‘“.
Damit wissen wir jetzt auch, wieviel Tonnen so eine Debussy-Tram auf die Waage bringt. Dabei rumpelt der Akku-Wagen vor allem deshalb durchs Bild, weil eine Plänkelei zwischen Debussy und seinem Freund Pierre Loÿis nun doch zum Ende kommen muss. Wie übrigens diese Kolumne, die sich freut an Hagedorns frecher Vergegenwärtigungskunst, und manches Kolorit dann doch etwas dick und freihändig aufgetragen findet. Ist das historische Musikwissenschaft? Nein. Literatur? Auch nicht. Es ist wohl ein ganz eigenes, das Hagedorn-Genre, aufgeschriebene Träume von Musikgeschichte. Wer sich auf das Spiel einlässt, wird Freude haben, wer für Quellen-Phantomschmerz anfällig ist, hin- und herblättern zwischen den Geschichten vorn und dem Anmerkungsteil hinten, haareraufend. ¶