THE SOCIETY OF MUSIC: 18. Dezember 2019

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Holger Noltze
Holger Noltze
18.12.2019

Für den abergläubischen Arnold Schönberg war die 9 als Nummerierung bedeutender Symphonien eine magische Schwelle, jenseits derer der Tod auf die großen Komponisten wartete, seit Beethoven: Schubert, Dvorák, Bruckner; Mahler, der auf die Partitur seiner Neunten eine „9“ schrieb, aber aus Neunerangst wieder ausradierte und das schon vollendete Lied von der Erde als eigentliche Neunte, die tatsächliche Neunte ergo als Zehnte ansah – was nichts half, auch er starb nach der Neunten und hinterließ eine angefangene Zehnte.

Die Frage, was noch gekommen wäre, ist (erstens) eine Lieblingsspekulation gerade von Leuten, die sich schon auf das, was vorliegt, kaum einen Reim machen können. Zu schweigen von (zweitens) den Gläubigen des Dezimalsystems, denen das Ende eines Lebenswerks vor Vollendung einer runden Zehn als unschön unvollendet erscheint. Dann gibt es noch (drittens) die Medien, die sich vor der schweren Herausforderung eines Beethoven-Jahres sehen, das nun einmal begangen werden muss, die aber um Beethovens Kunst lieber einen Bogen machen, klassische Musik entweder elitär oder langweilig oder beides finden. Das kommende Jahr wird uns also absehbar eine Menge Beethoven-Pop bescheren, die Beethovens Musik mit dem Flachsinn der Gegenwart zu arrangieren suchen oder sowieso am liebsten einmal mehr die wahre Identität der mysteriösen „unsterblichen Geliebten“ enthüllen.

Ludwig van B

Ludwig van Beethoven, popkulturell.

(Foto: Public Domain)

Für alle skizzierten Interessengruppen ist es eine gute Nachricht, dass, finanziert von der hier schon national zuständigen deutschen Telekom, ein KI-Projekt uns mit schlauen Rechenoperationen vorstellbar macht, wie diese offenbar so dringend ersehnte Zehnte denn geklungen haben könnte. Und das unter Hinzuziehung einer Reihe von Fachleuten, darunter immerhin der Pianist und Musikforscher Robert Levin. Schlaue Algorithmen, die hier einmal nicht unser triviales Konsum- und Wunschverhalten bei Amazon oder facebook weiterrechnen, vervollständigen die aus den in einem roten Notizbuch Beethovens versammelten, eher spärlichen Skizzen und Gedankenembryonen. Die Nachricht ist super und ging, wie man so sagt, viral.

Eine andere fiktive “Zehnte”, 1988 erdacht von Barry Cooper.

Dürfen wir uns für so eine Vollendungsfiktion nicht interessieren, hilft „gar nicht ignorieren“? Was wäre die logische Fortsetzung, im Vollendungsdenken ergo: Steigerung von Freude, schöner Götterfunken?

»Allein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen grossen Schöpfung, Zweck.«

Weitergehen ist der Kunst Zweck, sagt Beethoven, den wir uns gern als Freund des Internet vorstellen wollen. Er war aber keine künstliche, sondern künstlerische Intelligenz und betonte das Weitergehen in Freiheit wohl nicht ohne Grund. Nicht erst der späte Beethoven verstand sich auf die Freiheit, Regeln nicht nur zu folgen, sondern zu überschreiten.

Kann man denn Unberechenbarkeit programmieren? Vermutlich arbeiten sie dran. Beethovens Telekom-Zehnte wird uns einen Zwischenstand geben, wer weiß. Einstweilen finde ich Beethovens bekannte Nummern 1 bis 9 schon bleibend rätselhaft. ¶

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