THE SOCIETY OF MUSIC: 24. Februar 2021

Currentzis, 49

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Holger Noltze
Holger Noltze
24.02.2021

Zum ersten Mal hörte ich seinen Namen von Gerard Mortier.

»Kennen Sie den? Ist ein sehr besonderer Typ.«

Ich kannte ihn nicht. Ein paar Tage später lag eine DVD mit Currentzis' Aufnahmen von Tschaikowskys Iolanta und Strawinskys Persephone aus dem Teatro Real in Madrid im Briefkasten. Ein tatsächlich besonderer Typ, ganz in Schwarz, dünn, ein Blick, der Ernst und Entschiedenheit signalisiert. Kein Kumpel. Ein Charismatiker; oder bloß der Darsteller eines Charismatikers, da war ich mir durchaus nicht sicher. Immerhin wird Teodor Currentzis auch als Schauspieler geführt. Manche Currentzis-kritischen Kolleg:innen, und davon gibt es nicht wenige, rezensieren, scheint mir, gelegentlich vor allem den Darsteller, ihr Urteil ist streng: Das Gehabe! Die roten Sohlen! Das Tanzen, Mitsingen! Die Frisur! Die Priester- Posen!

2018 04 04 by Anton Zavjyalov

Teodor Currentzis

(Foto: Anton Zavjyalov)

Einer auf ein ästhetisches Mittleres verpflichteten Stilkritik bietet dieser Typ Currentzis reichlich Angriffsflächen. Wem andererseits der Klassik-Betrieb mit seinen Routinen langweilig ist, feiert den griechischen Wahl-Russen als »Klassik-Rebell«. Heute wird er nun 49, auf takt1 feiern wir eine ganze Currentzis-Woche, fast hätten wir ihn auch live aus Moskau dabei gehabt, das scheiterte im letzten Moment, so schade.

Neunundvierzig, das ist ein schwieriges Alter für einen Rebellen, zumal wenn er Chef nicht nur seines eingeschworenen MusicAeterna-Ensembles ist, sondern auch des SWR-Symphonieorchesters und so viel in Salzburg dirigiert: auf den prominentesten Bühnen, die der Betrieb zu bieten hat. Ein Darling, dessen Choreographien des Sich-Entziehens, der Distinktion, einem kindlich vorkommen können, ist ab heute noch ein Jahr U-50. Vielleicht kamen die Corona-Zwangsbeschränkungen als Besinnungspause für ihn gerade im rechten Moment, wo man sich zuletzt gelegentlich fragte, ob er sich, was Reisen und Repertoire angeht, zu viel abverlangte. 

Wenn wir Currentzis49 zum Anlass einer digital residency nehmen, dann vor allem als Einladung, einem außerordentlichen Musiker zuzuhören, der eben nicht nur die Betriebs-, sondern auch unsere Hörgewohnheiten herausfordert. Der bei Tschaikowsky, Mozart, Mahler, Verdi das Unbedingte sucht. Das, worum es geht. Ich erinnere mich an den Schrecken, den die Schläge auf die große Trommel beim Dies Irae in Verdis Requiem 2019 in der Mailänder Chiesa di San Marco bei mir auslöste. Was hat das zu bedeuten, Vorahnung des Jüngsten Gerichts oder Theater-Coup? Verdis Weisheit, aus Currentzis‘ Händen: beides. 

Danke, Gerard Mortier, für den Hinweis auf diesen Typen. ¶

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