THE SOCIETY OF MUSIC: 3. Mai 2023

Tempo giusto

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Georg Holzer
Georg Holzer
03.05.2023

Es war einmal eine Zeit, als Größe und Bedeutung in einem direkten Zusammenhang mit der Langsamkeit standen, in der sie zelebriert wurden. Ein großer Herrscher lief nicht, er schritt. Ein Hofzeremoniell oder ein religiöser Ritus mussten in gemessenem Tempo absolviert werden, um den gewünschten Eindruck zu machen. Entsprechend ging es auch in der Musik zu: Was groß und Ehrfurcht gebietend gemeint war, brauchte Pathos, Schwere und Langsamkeit.

In der klassischen Musik war es eine der großen Errungenschaften der letzten 50 Jahre, diese Proportionalität aufzulösen und den Meisterwerken neuen Schwung zu verleihen. Eine neue Generation von Musikerinnen und Musikern spielte Bach, Händel, Mozart und Beethoven, aber auch Pathos-Giganten wie Bruckner und Brahms einfach doppelt so schnell und erzielte damit erstaunliche und höchst erfrischende Ergebnisse. Den Hype um die Barockmusik hätte es nie gegeben, wenn dort nicht eine andere Geschwindigkeit eingezogen wäre. Man entdeckte plötzlich das Heitere, Leichte und Tänzerische der Klassiker. Aber noch wichtiger war eine simple Erkenntnis: Auch Musik, die leicht und frisch gespielt wird, klingt darum nicht weniger genial, im Gegenteil. Es wurden Schwellen abgebaut, denn so konnte auch einem weniger Klassik-affinen Publikum bewiesen werden, dass die Klassiker fetzen, wenn man ihnen nur die Chance dazu gibt.

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Berüchtigt für seine betont langsame Lesart: Sergiu Celibidache.

(Foto: Heinz Gebhardt)

Wer jetzt einwendet, dass Tempo in der Musik ja nur ein Parameter unter vielen ist und die Qualität einer Aufführung oder Einspielung von viel mehr abhängt als vom Zeitmaß, dem sage ich: Schon klar. Aber das Tempo kann den Charakter von Musik doch entscheidend verändern. Das merkt und spürt sogar ein blutiger Laie. Und das wissen die Stars an den Dirigentenpulten ganz genau: Tempo ist ein Markenzeichen. Das führt nicht selten zu einem bizarren Überbietungswettbewerb. Was zum Beispiel Mozart angeht, hat Teodor Currentzis hier in den letzten Jahren Maßstäbe gesetzt. Sein angeblich so neuer Mozart ist vor allem deshalb neu, weil er halsbrecherisch schnell ist. So hat man Mozart noch nie gehört! Das stimmt, so schnell war er noch nie. Andere Dirigentinnen und Dirigenten hängen sich gerne dran, denn wer will schon als Letzter ins Ziel kommen? Dass die Musik dabei leider auf der Strecke bleibt, ist egal. Denn ihre Raffinesse ist im rasenden Takt nur noch sehr eingeschränkt darstellbar.

Zur Vorbereitung einer Neuinszenierung von Don Giovanni habe ich mir letztens mit dem Regieteam eine Aufnahme von Otto Klemperer aus den frühen 1960er Jahren angehört. Ich gebe zu, dass ich sie genossen habe. Natürlich will man einen so langsamen Mozart eigentlich nicht mehr hören. Aber es wird dadurch eben auch vieles hörbar, worüber derzeit gerne hinweggespielt wird. Von meiner alten Liebe zu Karl Richters manchmal unerträglich langsamen Bach-Aufnahmen habe ich an dieser Stelle schon berichtet. Wenn man es schafft, sich von der gewohnt schnellen Hörerwartung zu lösen, kann man hier durchaus Entdeckungen machen. Nicht falsch verstehen: Ich wünsche mir nicht die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Aber ich denke nicht selten an einen Kapellmeister, der auf die Frage nach dem Tempo immer sagte: Wir spielen Tempo giusto. Und dieses Tempo giusto ist eben für jede Musik und sogar jede Aufführung anders. Jedenfalls ist es bestimmt nicht immer das schnellstmögliche. ¶

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