THE SOCIETY OF MUSIC: 5. Januar 2022

Klassik für Gscheidhaferl

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Georg Holzer
Georg Holzer
05.01.2022

Während meines Studiums habe ich eine junge Frau kennen gelernt, die mich mit einer besonderen Fähigkeit verblüffte: Sie konnte eine beträchtliche Anzahl klassischer Musikstücke nach wenigen Takten korrekt zuordnen, wusste sowohl die Komponisten als auch die Titel. Sie erklärte das mit einem Musiklehrer, der seine Klasse ein ganzes Jahr lang auf das Wiedererkennen bestimmter Stücke aus dem klassischen Kanon trainiert hatte. Ich, der ständig CDs laufen ließ und in Konzerte rannte, konnte von solchen magischen Kräften nur träumen. Auch wenn ich genau wusste, dass ich ein Stück kannte und vielleicht sogar kürzlich gehört hatte, konnte ich es nur selten benennen oder produzierte peinliche Verwechslungen.

An diese Geschichte muss ich immer wieder mal denken, wenn ich am Sonntag Vormittag beim Frühstück dem „Musikrätsel“ auf BR Klassik zuhöre. Hier geht es darum, Stücke zu hören und ihre Komponisten herauszufinden. Ich finde diese Sendung fast unerträglich altmodisch – am Ende werden die Hörer sogar dazu aufgefordert, das Lösungswort per Postkarte einzuschicken; dafür können sie dann CDs aus der Mottenkiste des Bayerischen Rundfunks gewinnen. Schlimmer ist aber, dass ich mich dabei erbärmlich unwissend fühle. Ich errate nämlich fast nie den richtigen Komponisten, und wenn, dann nur aus den biografischen Andeutungen der Moderatorin, nur selten, weil ich das Stück richtig zuordnen könnte. Meine Frau ist von solchen Komplexen frei, trotzdem kann sie die Sendung nicht leiden. Ihrer Meinung nach ist sie etwas für „Gscheidhaferl“. Das ist ein wunderbares Wort aus unserem oberbayerischen Heimatdialekt, dessen Etymologie mir nicht ganz klar ist. „Gscheid“ bedeutet „gescheit“, also klug, ein „Haferl“ ist eigentlich eine große Tasse oder kleine Schüssel. Vielleicht soll es heißen, dass jemand ein Gefäß der Klugheit ist. Nett gemeint ist es aber nicht. „Gscheidhaferl“ kann man synonym zum hochdeutschen „Klugscheißer“ verwenden, es klingt nur viel hübscher.

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Spottobjekt ohne Grund: Opernintendant Stéphane Lissner.

(Foto: Elisa Haberer)

Ein Fest für Gscheidhaferl war das Interview des Pariser Opernintendanten Stéphane Lissner, der 2015 in einer Fernsehsendung von fünf Musikstücken aus großen Opern gerade mal eines erraten konnte. Der Spott war gewaltig. Mir klingen noch die höhnischen Worte von Musikern und Agenten in den Ohren, mit denen ich damals darüber sprach. Ich verstand die Aufregung nicht. Der Mann wird dafür bezahlt, eines der größten Opernhäuser der Welt zu leiten, nicht dafür, Arien zu erkennen. Ich selbst identifiziere, abgesehen von ein paar Lieblingsstücken, meistens nur die Melodien sicher, mit denen ich gerade in einer Opernproduktion zu tun habe oder kürzlich hatte. Sicherheit im Musikstück-Raten halte ich nicht für einen Ausweis besonderer musikalischer Bildung. Eher für eine Spezialbegabung oder, wie im Fall meiner Studienfreundin, für das Ergebnis einer erfolgreichen Dressur. Etwas für Gscheidhaferl eben. Und wenn das „Musikrätsel“ beginnt, schalte ich inzwischen meistens um. ¶

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