THE SOCIETY OF MUSIC: 8. März 2023

Die Macht der Gewohnheit

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Georg Holzer
Georg Holzer
08.03.2023

Eine der grausamen Komödien des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard heißt Die Macht der Gewohnheit. Sie handelt von einem alten Theater-Tyrannen, von Sinnlosigkeit, Suff und Schuberts Forellenquintett. Der Zirkusdirektor Caribaldi versucht immer aufs Neue, mit seinen verkommenen Artisten dieses Stück einzustudieren. Das scheitert an deren totaler Talentlosigkeit, aber man versteht bald: Es geht gar nicht darum, irgendwann eine akzeptable Aufführung des Quintetts zustande zu bringen. Es geht darum, dass Menschen eine Aufgabe brauchen, und zwar am besten immer dieselbe. Ob sie erfüllbar ist, ist unwichtig. Hauptsache, sie haben etwas zu tun. Das ist die Macht der Gewohnheit.

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Wir müssen uns Bernhards Ensemble als glückliche Menschen vorstellen.

Der großartige Stücktitel fällt mir wieder ein, wenn ich auf den aktuellen Zustand des Theaters schaue. Vor längerer Zeit hatte ich an dieser Stelle darüber spekuliert, ob und wenn ja, wann es gelingen würde, das Publikum nach der langen Corona-Zwangspause wieder zurück ins Theater und in Konzerte zu bringen. Meine Vermutung damals: Es würde gelingen, aber es würde dauern. Die monatelange, am Ende zusammengezählt sogar jahrelange Schließung der Kulturinstitutionen war bis dahin ein unvorstellbares Szenario gewesen. Das so etwas passieren könnte, hatte niemand für möglich gehalten. Ein solches Ereignis musste dramatische, unabsehbare Folgen haben.

Heute, ziemlich genau drei Jahre nach dem ersten Lockdown, sieht die Sache ein bisschen anders aus. Wer sich den Missmut seiner Mitmenschen zuziehen will, muss in einem Gespräch nur Corona ins Spiel bringen. Das will garantiert niemand mehr hören. Schlange stehen vor Teststationen, Streitgespräche mit Impfgegnern, lange Abende zu Hause vor den immer gleichen Sondersendungen: Ja, das alles hat es gegeben. Aber es ist vorbei, wie ein böser Traum.

Und im Theater? Ehrlich gesagt: Es fühlt sich ziemlich ähnlich an wie vorher. Gerade hat der Deutsche Bühnenverein eine Umfrage veröffentlicht, die methodisch vielleicht nicht einwandfrei ist, aber genau das bestätigt, was wir beobachten: Das Publikum kommt zurück, es trägt keine Masken, es hat sich den Theater- und Konzertbesuch nicht abgewöhnt. Der kurze Hype um Theater und Musik im digitalen Raum ist vorbei – als langfristiger Trend wird das weitergehen, aber im Moment spielt es keine Rolle mehr. Die Menschen sind offenbar froh, sich wieder physisch um die Bühne versammeln zu dürfen. Die Macht der Gewohnheit hat sich erst einmal durchgesetzt. Das heißt nicht, dass plötzlich alles wieder gut ist. Die Corona-Zeit hat Wunden geschlagen im Selbstverständnis der Musiker und Theaterleute. Die Erkenntnis der eigenen Verzichtbarkeit war keine schöne Erfahrung. Und der Kampf ums Publikum wird härter, das wussten wir schon vor Corona. Aber Theater, Oper und Konzert, die in den letzten Jahren von vielen so lustvoll totgesagt wurden, sind gerade wieder ziemlich lebendig. Sie machen, was sie immer gemacht haben und was schon Direktor Caribaldi verstanden hatte: Jeden Tag neu anfangen. Die Macht der Gewohnheit eben. ¶

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