THE SOCIETY OF MUSIC: 6. April 2022

Altmodische Neutöner

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Georg Holzer
Georg Holzer
06.04.2022

Vor ein paar Tagen ist Wolfgang Rihm 70 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat Deutschlands berühmtester Komponist Interviews in großen Zeitungen gegeben, in denen er über die Musik und über das Altwerden sprach. Es war ein Vergnügen, sie zu lesen, weil dieser Künstler eben viel mehr als die Musik im Blick hat. Ein Mann, der wirklich etwas zu sagen hat, auch wenn er zurzeit aus gesundheitlichen Gründen keine Musik schreiben kann.

Was sich mir am meisten eingeprägt hat, waren seine Überlegungen zu seiner Position als moderner Komponist in den letzten Jahrzehnten. Er habe immer über das Paradox gestaunt, dass das große Klassik-Publikum sich bei seinen Stücken die Ohren zuhielt, während seine Kollegen von der selbsternannten Avantgarde ihn wegen seiner Gefälligkeit schmähten. Vor einigen Jahren habe ich an einer Inszenierung von Rihms erster und bis heute erfolgreichster Oper Jakob Lenz mitgearbeitet. In der Neue-Musik-Szene hatte dieses Stück in den späten 70er Jahren für Empörung gesorgt, dem gerade 26-jährigen Rihm wurde Frühvergreisung unterstellt. Als Nachgeborener kann man sich darüber nur wundern. Es war damals wohl unerhört, echte Figuren mit echten Problemen und einer relativ gut fassbaren Handlung auf die Bühne zu bringen. Die Musik aber empfand ich nicht als Ohrenschmeichler, großartig, aber anstrengend.

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Runder Geburtstag im Ruhestand: Wolfgang Rihm wird 70.

(Foto: Uli Deck)

Letztens hat mir ein Kollege eine schöne Geschichte zu diesem Thema erzählt. Er hat sich in Mainz gerade die Premiere von Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore angeschaut, übrigens eine Zeitgenossin von Rihms Oper Jakob Lenz. Bei Nono gibt es keine Handlung, keine durchgehenden Figuren und eine Orchesterpartitur, die mit elektronischen Klängen durchsetzt ist. Tatsächlich ist der Zugriff radikaler als in Rihms Stück. Nach der Aufführung unterhielt sich mein Kollege kurz mit seinen Sitznachbarn, einem älteren Ehepaar, seit Jahrzehnten Abonnenten des Theaters. Sie waren von Nonos Oper nicht sehr begeistert und fanden die ganze Veranstaltung eher altmodisch. Ja, meinten sie, früher habe das so sein müssen in der Neuen Musik, aber darüber sei man doch hinweg, inzwischen dürfe man auch wieder Musik machen, die man gut hören und verstehen könne, oder?

Es ist eine vertrackte Sache mit der zeitgenössischen Musik. Die Kategorien „gut hörbar“ oder „sehr avantgardistisch“ hängen eben doch sehr vom individuellen Empfinden ab. Ich hatte schon mit Menschen zu tun, die Prokofjew unerträglich atonal fanden, während ich beim Festival „Wien modern“ mit Leuten zusammenstand, für die jede Harmonie der Gottseibeiuns war. Deshalb wird die zeitgenössische Musik diese Diskussion nicht los. Nicht nur jede Generation, sondern jede einzelne Komponistin und jeder einzelne Zuhörer muss immer wieder seine Antwort finden. ¶

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