Ist das Virtuosentum eine Disziplin der Jugend? Diese Frage wurde mir vor ein paar Wochen gestellt, als ich bei dem Presto Classical-Podcast zu Gast war – und über das Violinenspiel über die Jahrzehnte hinweg gesprochen habe.
Der Hintergrund war eine Diskussion über eine Aufnahme von George Enescu aus den 1940ern von Bachs d-Moll Chaconne für Violine solo. Enescu war da bereits in den späten Jahren seiner Karriere, leidete an Athritis – und man kann wirklich sagen, dass nicht jede Note wirklich sitzt. Daher also die Frage. Ich finde diese Aufnahme unheimlich stark – und kann die Frage also nicht einfach so bejahen, aufgrund einiger Intonationsfehler. Da stellt sich also die Frage: Wenn dieses Spiel virtuos ist, was ist Virtuosität dann genau? Meine Antwort darauf war, dass es bei Virtuosität um mehr als bloßes technisches Können geht – was heute wohl die meisten Violinist*innen mitbringen, dank des hohen technischen Niveaus des sogenannten Kernrepertoires. Es geht gleichermaßen um die Fähigkeit, Zuhörer:innen zu bewegen, indem durch das Instrument gesprochen wird. Wenn es aber ein technisches Element gibt, von dem letzterer Punkt abhängt, dann ist es tatsächlich die Natürlichkeit, fließende Bewegungen des Bogens und des Griffs, die weniger davon abhängen, dass die Muskeln sich gerade auf dem körperlichen Zenit befinden.
Ist das Virtuosentum eine Disziplin der Jugend?
(Foto: Sonja Werner)On-Air-Interviews unterscheiden sich nicht wesentlich von Bewerbungsgesprächen, da man in den ersten fünf Minuten meist überzeugt davon ist, sich relativ gut präsentiert zu haben – wonach sich dann langsam die Sorgen einschleichen und mit ihnen der Wunsch, noch einmal zurückzugehen und ein paar neue Gedanken einzubringen. Genau so war es mit diesem Interview. War es richtig, Kommunikationsfähigkeiten über körperliche Geschicklichkeit zu stellen? Oder war ich einfach nur absichtlich anderer Meinung, um eine interessante Diskussion aufkeimen zu lassen? Immerhin bemerke ich, wenn Künstler:innen vor allem durch die mühelose Geschmeidigkeit glänzen, mit der die kniffligsten Passagen gemeistert werden. Habe ich es mir also selbst verbaut, Künstler:innen Komplimente für solche Dinge zu machen, wenn ich nicht widersprüchlich wirken will? Würde ich über solche Dinge überhaupt nachdenken, wenn ich das nicht ein paar Tage vor der dringend benötigten Weihnachtspause tippen würde?
Wahrscheinlich ja. Von dieser Frage wäre ich noch immer besessen, unabhängig vom Vor-Urlaubs-Zustand. Teils, weil es Spaß macht und interessant ist, sich selbst zu hinterfragen, und teils auch, weil ich Ihnen jetzt vielleicht etwas zum Nachdenken gegeben habe. Was die eigentliche Frage angeht, denke ich, dass ich bei meiner ursprünglichen Meinung bleiben werde. Sehr viele Leute können beeindruckende Sachen spielen. Viel weniger Menschen können Musik machen, die die Seele berührt. Für mich muss für wahre Virtuosität also eine solide Technik gegeben sein – und sich dann etwas Tieferes und Reicheres entwickeln. Hoffentlich bietet 2022 viele Livekonzert-Möglichkeiten und Aufnahmen, um diese Theorie zu prüfen. Bis dahin ein frohes neues Jahr. ¶