Ich langweile Sie jetzt nicht mit den Gründen warum, aber ich habe letzte Woche darüber gegrübelt, wie unfassbar es eigentlich ist, dass Clara Schumann (geborene Wieck) komplett aus den (zumindest nicht-deutschen) Geschichtsbüchern verschwunden war – natürlich bevor all die Anstrengungen unternommen wurden und weiterhin werden, Komponistinnen stärker zu beachten. Wie konnte es passieren, dass eine international gefeierte Klaviervirtuosin, die ihr Debüt im Alter von neun Jahren am Leipziger Gewandhaus gegeben hatte; der Paganini im Alter von zwölf Jahren anbot, an seiner Seite aufzutreten; die von Chopin und Liszt gleichermaßen gefeiert wurde; die mit sechzehn Jahren ein Klavierkonzert schrieb, das in Sachen Originalität und Umgang mit dem Orchester mindestens auf dem gleichen Niveau rangiert – wenn nicht höher – wie die Musik ihres Ehemanns Robert Schumann oder des Freundes Johannes Brahms, als diese im gleichen Alter waren; die ihr Leben lang international auftrat – wie konnte diese talentierte Frau der Nachwelt nur als “Robert Schumanns Ehefrau” und “Vertraute Brahms’” in Erinnerung bleiben? Dann dämmerte es mir. In Clara Schumanns Fall wurde sie nicht in erster Linie als Komponistin vergessen – die Geschichte hat vor allem weibliche Interpretinnen vergessen. Ob wir es genauso sehen, oder nicht – Clara hat sich immer mehr als Pianistin, denn als Komponistin gesehen.
Vor allem als Interpretin vergessen: Clara Schumann.
(Foto: Public Domain)Es ist natürlich eine Schande, dass die historische Musikwissenschaft sich so auf Komponisten fixiert hat – zum großen Nachteil und Schaden für die Interpret:innen. Zudem, verglichen mit anderen, breiteren wissenschaftlichen Disziplinen, ist dieser Ansatz völlig widersprüchlich. Wir können jahrhundertealte Musik hören, aber nicht die Musiker:innen, die sie gespielt haben. Doch würden Historiker darauf bestehen, dass es unmöglich ist, wirklich etwas über das Elisabethanische Zeitalter zu wissen, weil niemand das spanische Heer auf Film gebannt hat? Das wäre verrückt. Also beschäftigen wir uns stattdessen mit den zeitgenössischen Artefakten und Zeitzeugenberichten, die uns zur Verfügung stehen.
Es geht eine Menge verloren, wenn wir immer nur über Werke – und nicht über die Interpret:innen sprechen. Liszts Musik zum Beispiel wird noch faszinierender, wenn man nicht nur analysiert, wie er die Tondichtung verfochten hat, sondern uns auch seinen Rock’n’Roll-Lebensstil als theatralischer, reisender Virtuose vergegenwärtigen, der mit seiner Musik Drama, Romantik und technische Feuerwerke vereinte und die Zuschauer:innen dazu brachte, sich um kaputte Saiten und Zigarettenstummel zu prügeln. Oder wenn man darüber Bescheid weiß, dass zwischen Liszt und Robert Schumann eine Spannung herrschte, und Schumann Liszts Musik als zu schillernd ablehnte. Liszt antwortete prompt und bezeichnete Brahms Klaviermusik als “hygienisch, aber nicht gerade aufregend.”
Oder Vivaldis Violinkonzerte, die noch mehr faszinieren, wenn man sie im Kontext von Vivaldis Bestrebungen beleuchtet, die Grenzen und zeitgenössischen Techniken seines Instruments auszuweiten. Seine ausgeschriebenen Kadenzen zum Beispiel, die mit all ihren Lagenwechseln zu einer Zeit geschrieben wurden, als Kinnstützen noch nicht erfunden waren und Violinen-Hälse kürzer – was den Blick darauf verändert, wie schwierig gerade die Stellen im hohen Register waren. Ein Zeitgenosse beschrieb, wie Vivaldi das Publikum staunen ließ, als seine Finger so hoch Richtung Steg rutschten, dass dort eigentlich gar kein Raum mehr für den Bogen blieb.
Der erste Satz von Clara Schumanns Klavierkonzert in a-Moll.
Um auf Clara Schumann zurückzukommen: Manche ihrer großen, leidenschaftlichen Einfälle im zuvor erwähnten Klavierkonzert a-Moll könnten etwas einfältig wirken, wenn man nicht in der richtigen Stimmung ist – oder den Klischees folgen möchte, die mit Absicht gestreut wurden, um ihre Musik abzuwerten. Bis man sich vergegenwärtigt, dass sie diese Leidenschaft auch in ihren Interpretationen auslebte: “Das Mädchen hat mehr Kraft als sechs Knaben zusammen” sagte Goethe nach einem ihrer Konzerte, und das ergibt plötzlich Sinn.
Das könnte jetzt so weitergehen, aber ich habe mein Zeichenlimit erreicht. Ich schließe mit einem letzten Namen: Domenico Dragonetti. Recherchieren Sie mal, und seien Sie darauf gefasst, beeindruckt zu werden. ¶