Angesicht des aktuellen Weltgeschehens habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, meine Pläne für die dieswöchige Kolumne aufzuschieben, um auszuloten, wo wir uns aktuell befinden – vor allem hinsichtlich der großen Probleme vieler Künstler, Agenturen, Festivals und Veranstalter. Kurz: Derer, die von Live-Musik leben. Mein Mitgefühl gilt in diesen Tagen ihnen. Aber – und das schreibe ich als jemand, der die letzte Woche damit verbracht hat, jede halbe Stunde die Nachrichten zu checken und sich dadurch nur noch schlechter zu fühlen – ich habe mich dazu entschieden, dass es vielleicht hilfreicher wäre, ein paar Gedankenanstöße zu liefern.
Vielleicht haben Sie es auch vor ein paar Wochen in den Nachrichten entdeckt: Die Pianisten-Koryphäe András Schiff hat eine Essaysammlung mit dem Titel Musik kommt aus der Stille veröffentlicht. Und vielleicht haben Sie auch gehört, dass das heutige Konzertpublikum nicht gerade gut darin wegkommt. Ganz zu schweigen von den professionellen Kritikern. Ein Kapitel, geschrieben als ein Brief an Robert Schumann, sticht besonders hervor. Schiff erkennt darin zwar an, dass die Zahl der Konzertbesucher auf der ganzen Welt gestiegen ist, klagt aber gleichzeitig, dass „der durchschnittliche Hörer von heute kaum noch die leiseste Ahnung davon hat, was er da eigentlich hört. Er weiß weder etwas über Neue Musik, noch kann er zwischen herausragenden, annehmbaren und schwachen Aufführungen unterscheiden. Zwei Tage nach dem Konzert liest er die Meinung eines sogenannten ‘Experten’ in der Lokalpresse und übernimmt sie kurzerhand als seine eigene...”
»Mit wenigen Ausnahmen sind die Besprechungen ohnehin auf einem alarmierend niedrigen Niveau.«
Das heutige Publikum: Uninformiert?
(Foto: Public Domain)Zwangsläufig wurde dem entgegengesetzt, dass solche Bemerkungen nicht gerade einladend auf Neulinge im Konzert wirken, und da ist schon etwas dran. Ich denke nicht, dass wir lang vergangene Publikums-Ären und Kritiker als ewige Vorbilder für kritisches Engagement und Scharfsinnigkeit hochhalten können. Es waren beispielsweise die Kritiker, die die erste Version von Beethovens Violinkonzert mit seinen „endlosen Wiederholung einiger weniger gewöhnlicher Passagen” „ermüdend” fanden – und sie hatten Recht –, das Publikum hingegen war vollkommen hingerissen. Dann haben es die Berliner Kritiker ziemlich vermasselt, als sie nach dem ersten Hören von Brahms’ Violinkonzert das selbige als „Abfall” brandmarkten. Das Opernpublikum des 18. Jahrhunderts beispielsweise war am ehesten dafür bekannt, Virtuosität mit Kunstfertigkeit zu verwechseln – und während der Aufführungen ununterbrochen zu tuscheln, ob es die Romane von Leo Tolstoy oder Edith Wharton bringen. Auch das Publikum des späten 19. Jahrhunderts hatte viele nicht-musikalische Gründe, den Abend im Theater zu verbringen. Tatsächlich kann man darüber streiten, ob das Covent-Garden-Publikum des 21. Jahrhunderts nicht sogar einen höheren Anteil an Konzertbesuchern hat, die wirklich nur für die Musik gekommen sind.
Müll? Brahms’ Violinkonzert.
Leider kann ich aber nachvollziehen, was Schiff beschreibt. Ich habe selbst in Konzerten gesessen, in denen das Orchester durch eine Symphonie geschlafwandelt ist – gefolgt von begeistertem Applaus. Das Publikum war allein dadurch überzeugt, dass es sich um ein weltberühmtes Orchester gehandelt hat und es deswegen eben gut gewesen sein musste. Das fand ich seltsam deprimierend. Genauso, als ich in einem ausverkauften Konzert eines extrem vermarkteten Solisten saß – und feststellen musste, dass das Image stärker war als das Spiel. Dennoch, ist es wirklich wichtig, ob das Publikum passiv rezipiert oder analytisch, wenn das Ergebnis am Ende ein entspannender Abend ist?
Ich bin für Menschen, die einen schönen Abend verbringen, und für Musik als einen Zufluchtsort vor der Hektik der Welt. Dennoch bin ich genauso für eine Gesellschaft, die die hohe Qualität des kulturellen Lebens wertschätzt, denn schlussendlich bereichert uns das geistig am meisten. Außerdem bin ich für eine Gesellschaft, die das Denken und ihre Denker achtet – sodass wir den Wunsch und die Möglichkeit haben, uns selbst kritisch zu beleuchten. Stellen wir die richtigen Fragen und setzen wir uns dann mit diesen sachlich, offen und begründet auseinander? Das sehe ich in unserer Welt des 21. Jahrhunderts am ehesten gefährdet, und der Verlust einer offenen Debattenkultur macht unsere Gesellschaft ärmer und verletzlicher.
Wer weiß schon, ob das Publikum des 21. Jahrhunderts schlechter über Geschmack urteilen kann als frühere Generationen. Die größere Frage ist, ob sich analytisches Hören im Konzertsaal heutzutage überhaupt lohnt – abseits von historischen Vergleichen. Ich persönlich fände es großartig, wenn mehr Menschen dem Hören eine Chance geben würden. Nicht zuletzt, weil die kritische Auseinandersetzung damit, was auf der Bühne geschieht, enorm Spaß macht – es ist einfach das, was wir am Musikjournalismus so lieben. Also, falls Sie es noch nicht gemacht haben: Bevor es in das nächste Konzert geht, oder Sie sich etwas online ansehen, hören Sie sich Aufnahmen der jeweiligen Stücke an. Sie werden merken, dass die Unterschiede riesig sein können. Fragen Sie sich selbst, was Ihnen gefällt, was weniger – und warum das so ist. Dann können Sie sich dem Konzert widmen, sehen und hören – und dem nachfühlen, was Ihnen auffällt.
Es wäre wahnwitzig, davon auszugehen, dass massenhaft analytisch-hörende Menschen eine Lösung für die größeren Probleme der Welt darstellen können. Dennoch, wenn die Zahnrädchen unserer Welt wieder anfangen, sich zu drehen, und das werden sie, dann ist das analytische Hören vielleicht eine nette Extra-Zutat in einer Gesellschaft, die die Dinge hoffentlich mit neuen und weiseren Augen betrachten wird. ¶