THE SOCIETY OF MUSIC: 8. September 202

Spot auf Elisabeth Lutyens

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Charlotte Gardner
Charlotte Gardner
08.09.2021

Es ist schon erstaunlich, dass gerade in diesen Zeiten, in denen Veranstalter*innen und Musiker*innen gleichermaßen versuchen, häufiger Werke von Komponistinnen der Vergangenheit und Gegenwart in ihre Programme aufzunehmen, es noch immer viele Komponistinnen gibt, die nahezu gar nicht beachtet werden. Wenn meine Beobachtungen stimmen, dann sind es vor allem die “schwierigeren” Musiksprachen, die übersehen werden. Während also die Sterne von Clara Schumann oder etwa den Boulanger-Schwestern aufgehen, wartet man noch vergeblich auf die Wiederentdeckung von Komponistinnen wie Elisabeth Lutyens (1906-1983) oder Elizabeth Maconchy (1907-1994). Das erwähne ich, weil ich hier unter dem Eindruck des BBC Concert Orchestras unter Bramwell Tovey schreibe, die ich gestern mit einem Programm zur britischen Filmmusik des 20. Jahrhunderts bei den Proms gehört habe. Gespielt wurde auch Lutyens Soundtrack zu dem Horrorfilm Der Schädel des Marquis de Sade von Christopher Lee von 1965. Lutyens war in meinen späten Teenager-Jahren eine meiner musikalischen Obsessionen – und Teil meiner Universitäts-Abschlussarbeit. Natürlich ist ihre Filmmusik nicht wirklich repräsentativ für die Musiksprache ihres Konzertrepertoires – aber diese Musik live zu hören, war aufregend für mich. Auch, weil es das erste Mal seit 1994 war, dass ihre Musik bei den Proms gespielt wurde, damals The Tears of the Night – als Tribut für einen ihrer größten Verfechter, William Glock.

Die Titelmusik zum Film “Der Schädel des Marquis de Sade”

In Wahrheit fühlte sich die Aufführung dann doch etwas wie eine Antiklimax an. Einerseits, weil das Orchester diese Musik definitiv nicht gefühlt hat. Andererseits fand ich nicht, dass die Ausschnitte wirklich gut miteinander funktionierten. Als ich zuhause war, öffnete ich meine zuvor erwähnte Abschlussarbeit, um nach Antworten zu suchen. Was mich umgehauen hat: Der Schädel des Marquis de Sade bekommt aktuell zwar wieder mehr Aufmerksamkeit – und sogar eine kommerzielle Aufnahme der Filmmusik – doch Lutyens selbst glaubte nicht daran, dass Filmmusik im Konzertsaal funktioniere. Dementsprechend legte sie ihre Musik dafür auch gar nicht erst aus: Ihr ging es einzig und allein darum, dass die Musik dem Film diente. Wenn man Lutyens also wirklich wiederentdecken möchte, sollte man sich nicht ihre vielen, guten Filmpartituren anschauen, sondern sich auf ihr Konzertrepertoire fokussieren.

Das ist keine einfache Sache. Die entschlossene Herangehensweise an Filmmusik zeigt, dass Lutyens ein willensstarker, schwieriger und oftmals unliebsamer Charakter war – und ebenso ist auch die Musik, die sie geschrieben hat. Es gibt unfassbar viel, nicht alles ist gut. Natürlich führt das Gespräch darüber auch zu unangenehmen Diskussionen bezüglich der Qualität. Zudem ist ihre Musik nicht leicht zugänglich – eine schwierige 12-Ton-Musik, deren Strukturen sich häufig aus der frühen englischen Musik ergeben – man versteht, warum sich Künstler*innen und Veranstalter*innen nicht darum reißen, in ihrem üppigen Katalog nach Gold zu sieben.

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Elisabeth Lutyens

Natürlich ist Lutyens nicht die erste Komponistin, die uns nur eine handvoll wirklich guter Kompositionen hinterlässt. Unter all den Gründen, die ich aus Platzmangel hier nicht ausführen kann, will ich unterstreichen, dass sie eine einzigartige und bedeutende Persönlichkeit war – und sie und ihr Werk stärker anzuerkennen, würde unser sehr enges Bild der britischen Musik des 20. Jahrhunderts nur bereichern. Das meine ich mehr aus musikwissenschaftlichen als aus Komponistinnen-Rehabilitations-Gründen. Im Kontext eines der Interviews, die ich vor einigen Jahren mit Menschen geführt habe, die Lutyens kannten, würde diese sich wohl im Grab umdrehen. Der Komponist Hugh Wood erzählte mir: „Als die BBC sich damit gerühmt hatte, dass es eine erstaunliche neue Prom-Saison in dem und dem Jahr gewesen wäre, weil es mehr Komponistinnen im Vergleich zu den Jahren davor gegeben hätte, sagte Lutyens dazu: ‘Das ist lächerlich. Komponisten sind Komponisten, ob es Männer oder Frauen sind. Die BBC veröffentlicht ja auch keine Liste von homosexuellen Komponisten, deren Werke bei den Proms Premiere hatten.’” Die Zeiten haben sich glücklicherweise geändert, aber dennoch: Ein spannender Einblick in eine eher schwierige Frau und was sie über die Komponistinnen-Thematik dachte, vor über 40 Jahren.

2023 wird Lutyens vierzigster Todestag sein, 2026 ihr einhundertzwanzigster Geburtstag. Vielleicht ist es an der Zeit, sich tiefer in die farbenfrohe, wenn auch manchmal unkomfortable Welt der Elisabeth Lutyens zu graben. ¶

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