Würde man mich bitten, eine Sache zu nennen, die ich besonders genieße, seitdem die Covid-19-Beschränkungen gelockert – dann wären das, natürlich neben der Freude daran, andere Menschen treffen zu können, die beflügelten Gespräche, die ich mit Künstler:innen über die Zukunft führe. Es fühlt sich plötzlich wieder logisch an, proaktiv über die Zukunft zu sprechen – nicht wie eine vages und abstraktes Gedankenspiel. Eines meiner letzten Gespräche ist mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Es ging um eine späte Antwort, die mich zu der Frage erreichte, wie eine gesunde Welt der klassischen Aufnahmen im 21. Jahrhundert aussehen sollte. Unter den leidenschaftlichen Gedanken, die ein profilierter Solist mit mir dazu teilte, war die Aussage, dass die weite Welt der Aufnahmen experimentierfreudiger und kreativer werden müsse. Eben nicht die immer gleichen Konzerte aus der Druckerpresse, die schon unzählige Male aufgenommen wurden – oder verschiedene Aufnahmen desselben Konzerts vom gleichen Orchester, nur mit anderen Solist:innen. Man muss dazu sagen, dass die Sichtweise des besagten Künstlers recht ausgewogen war: Am Ende sollte doch jede:r selbst entscheiden dürfen, was sie oder er aufnehmen wolle.
Zwei wirklich gute Punkte. Auf der einen Seite bin ich fest überzeugt davon, dass es wertvoll sein kann, eine eigene Interpretation eines häufig aufgenommenen Werks vorzustellen. Ich glaube, ich habe fast jede Aufnahme auf meinem Schreibtisch liegen, die Kernrepertoire wie das Mendelssohn Bartholdy Violinkonzert e-Moll – oder Elgars Cellokonzert behandelt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht gespannt bin, wenn ein:e Künstler:in eine neue Aufnahme herausbringt. Wir sollten uns daran erinnern, dass eine klassische Musikwelt, die lebt, atmet und relevant ist, auch immer Aufnahmen von Künstler:innen bereithalten sollte, die man dann auch live im Konzert sehen und hören kann. Heifetz war hervorragend, aber er tritt eben nicht mehr im Musikverein auf. Andererseits finde ich es großartig, wenn etwas vollkommen Neues oder Unerwartetes auf meinem Schreibtisch landet – und genau das ist mit drei verschiedenen Alben passiert, die ich Ihnen hier jetzt näher bringen möchte.
Müssen Aufnahme-Projekte experimentierfreudiger werden?
(Foto: Public Domain)Das erste Album heißt Stolen Music vom Linos Piano Trio, auf denen das Ensemble selbst arrangierte Fassungen dreier französischer Orchesterwerke eingespielt hat: Debussys Prélude à l’après-midi d’un Faune, Dukas’ Zauberlehrling und Ravels La Valse. Dazu kommt noch Schönbergs Verklärte Nacht. Ja, ich weiß: klingt nach Druckerpresse. Doch das sind keine bloßen Transkriptionen: Das Trio geht von dem Gedanken aus, wie diese berühmten Stücke geklungen hätten, wären sie originär für Klaviertrio geschrieben worden. Die Ergebnisse sind erstaunlich anders als die Originale. Nahezu Transformationen, fesselnd interpretiert: Hören Sie sich das an.
Ravels »La Valse« für Klaviertrio.
Dann wäre da noch William Byrd and John Bull: Visionaries of Piano Music – ein Doppelalbum des jungen amerikanischen Pianisten Kit Armstrong, das ich mir wirklich zunächst zweimal anhören musste. Ich meine, ja, es gibt diese neue Pianisten-Generation, die Johann Sebastian Bachs Musik auf modernen Flügeln spielt, aber… alte englische Virginal-Musik? Aber es ist einfach traumhaft. Hier wird nicht nur atemberaubende Virtuosität gezeigt, alles ist mit einer ernsthaften Wissenschaftlichkeit fundiert, wie das Repertoire am besten auf das moderne Instrument übertragen werden kann. Gewürzt wird das Ganze durch perfekt ausbalancierte Regelbrüche. Meiner Meinung nach bahnbrechende Interpretationen.
Alte englische Viriginal-Musik auf modernen Flügeln: Kit Armstrong spielt Byrd und Bull.
Schließlich First Light, ein Programm von Nico Muhly und Philip Glass mit einem Violinisten, bei dem man immer darauf vertrauen kann, dass er etwas völlig anderes vorstellt: Pekka Kuusisto – zusammen mit dem Norwegian Chamber Orchestra. Das Album präsentiert in leuchtenden Farben die Weltpremiere von Muhlys Shrink – ein hochexplosives, technisch anspruchsvolles Konzert für Violine und Streichorchester. Es tut genau das, was der Name sagt: Über die drei Sätze hinweg schrumpft es. Es folgt eine Interpretation von Philip Glass’ The Orchard, und schließlich Kuusistos eigenes Arrangement von Glass’ drittem Streichquartett Mishima. Ein Album, das kaum aktueller, lebendiger, innovativer und neuer klingen könnte.
Philip Glass’ drittes Streichquartett, arrangiert für Streichorchester von Pekka Kuusisto.
Ich hoffe, Sie entdecken diese drei Alben – und freuen sich so darüber, wie ich es gerade tue. ¶