Zeit für ein Geständnis. In meiner Studienzeit an der University of Cambridge – ich habe Musik studiert – habe ich beschlossen, dass ich Beethoven nicht mag. Ja, wirklich – beschlossen. Es hatte weniger damit zu tun, dass ich seine Musik schlicht nur nicht mochte. Es war auch nicht so, dass da etwa eine Sprachbarriere gewesen wäre, sondern es war vielmehr die bewusste und bestimmte Ablehnung meinerseits, den Massen zu folgen, die ihn anbeteten. Und ich hätte mich zutiefst unoriginell gefühlt, hätte ich der Ansicht beigepflichtet, dass dieser Komponist, der schon über 200 Jahre tot war, noch immer unüberwindbar in seiner Großartigkeit sei.
Also habe ich jeden öffentlichen und privaten Appell der letzten Monate mit einem bitteren Lächeln bedacht, wenn es darum ging, seinen 250. Geburtstag eben nicht als Anlass zu nehmen, seine Werke noch häufiger aufzuführen als ohnehin schon, sondern ganz im Gegenteil in diesem Jahr ein Beethoven-Sabbatical einzulegen. Vor zwanzig Jahren hätte meine Stimme in diesen Chor eingestimmt. Heute aber nicht mehr. In der Tat: Müsste ich einen einzigen Komponisten wählen, den ich für den Rest meines Lebens hören dürfte, dann stünden die Chancen gut, dass es Beethoven wäre. Ohnehin könnte man Beethoven in den nächsten elf Monaten nur aus dem Weg gehen, wenn man sich in einem Bunker verschanzen würde. Also versuche ich lieber zu zeigen, was seine Musik so Anziehendes an sich hat, sodass die Überpräsenz absolut gerechtfertigt ist – anstatt die Augen deswegen zu verdrehen.
Ein Anti-Beethoven-Jubiläums-Argument, das ich in den letzten Wochen immer wieder gehört habe, ist, dass wir auch den letzten Rest Musik lebender Komponisten aus den Programmen drängen, wenn wir noch mehr Beethoven darauf setzen. Meine Meinung ist, dass Veranstalter entweder große Verfechter Neuer Musik sind, oder eben nicht. Tatsächlich gibt es eigentlich keinen besseren Komponisten als Beethoven, dessen Werke sich nahezu aufdrängen, neben Werken von heute programmiert zu werden. Beethoven selbst lehnte es ab, musikalisch stillzustehen: Ob es die Sonatenhauptsatzform, Symphonie, das Konzert oder das Quartett war, er nahm existierende Formen und führte sie weiter. Gerade das wird von vielen Veranstaltern bemerkt und genutzt, um dieses Beethoven-Jahr als Sprungbrett für neue Auftragswerke nutzen. Zum Beispiel die amerikanische Dirigentin Marin Alsop und ihre All Together – Global Ode to Joy-Tour, bei der sie Beethovens Neunte aufführt – und zwischen den Sätzen vier neue Kompositionen eingefügt werden.
Die neunte Symphonie endet natürlich mit Schillers berühmter Ode an die Freude, eine Hymne für den Frieden, die Freiheit und Solidarität unter Menschen. Das bringt mich zu den Qualitäten von Beethovens Musik, die mich schließlich doch überzeugt haben. Und, so wie ich glaube, das Jubiläum 2020 zu einem guten Zeitpunkt machen: Menschlichkeit und Hoffnung. Wenn Johann Sebastian Bachs Musik klingt, als sei sie tief in der geordneten Gewissheit und dem Frieden des Himmels verwurzelt, dann ist Beethovens Musik im Chaos menschlicher Zustände gebunden – doch immer auch himmelwärts strebend. Man hört existenzielle Kämpfe und die schmerzhafte Frage nach dem “Warum?” – doch gleichzeitig auch den Glauben daran, dass Hoffnung und Freude triumphieren, wenn wir darum kämpfen. Immer ist da diese entschiedene Ablehnung, diese Dunkelheit einfach zu akzeptieren, ob es nun die körperliche Dunkelheit des Hörverlustes, die emotionale Dunkelheit niemals die wahre Liebe zu finden, die sozio-politische Dunkelheit der Kriege ist. Ich kann mir keine Musik vorstellen, in der man besser Schutz suchen und Inspiration finden kann, wenn wir durch unsere eigenen sozial-, politisch- und ökologisch unruhigen Zeiten steuern.
Mein neuster Beitrag zum Jubiläum ist diese Woche online gegangen: Ein kurzes Video für die Deutsche Grammophon-Reihe zu Beethoven. Darin besinge ich die Freuden von Arturo Benedetti Michelangelis Konzert von 1979, bei dem das Emperor-Klavierkonzert aufgenommen wurde. Oder Eleonore Bünings Beitrag über Bernsteins Live-Mitschnitt von 1989 mit Beethovens Neunter, während die Berliner Mauer fiel. In wenigen Monaten wird mein Listening-Guide für das Violinkonzert veröffentlicht. Und gleich, sobald ich diese Kolumne hier beendet habe, schreibe ich über Beethovens wundervolles und übersehenes Opferlied.
Also bitte, nehmen Sie dieses Beethoven-Jahr mit offenen Ohren und Herzen an. Es gibt so viel, was wir aus dieser Musik lernen können, sie ist ein Geschenk. ¶