Die Welt wurde durch eine Art Erdbeben erschüttert, seit ich meine letzte Kolumne geschrieben habe – und noch immer ist all dies schwer zu begreifen. Doch auch in der klassischen Musikwelt müssen wir die Situation irgendwie verstehen und darauf reagieren, da klassische Musik selbst politisch ist – ein Punkt, auf den Holger Noltze vor einigen Wochen in seiner Kolumne hier hingewiesen hat. Dennoch ist die Frage nach dem Wie eine, die mir persönlich in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf gegangen ist. Ich bin dankbar dafür, dass ich nicht einer Musikinstitution vorstehe, die unter dem Druck steht, schnell Farbe bekennen zu müssen. Das Aufkündigen von Verträgen mit russischen Musiker*innen, die als prominente Unterstützer*innen Putins bekannt sind, war eigentlich der leichte Teil. Eine Frage, die viel schwieriger zu beantworten war, ist die, wie die Welt der klassischen Musik ihren eigenen, guten und sinnvollen Beitrag zum Streben nach Frieden leisten kann, sei es im Konzertsaal oder in der internationalen Wettbewerbsarena.
Meine persönliche Ansicht zur aktuellen Verbannung eines Teils der russischen Kultur ist, dass es wohl niemandem dient, russisches Repertoire einfach fallen zu lassen, nicht zuletzt, wenn so viel davon einen sinnvollen Beitrag zur aktuellen Situation leisten kann. Ebenso wird immer deutlicher, dass die Mehrheit der russischen Musiker*innen die Gnade, das Mitgefühl und die Unterstützung der Musikgemeinschaft brauchen werden, statt einer Verurteilung und Ablehnung. Ich befürchte, dass wir nicht immer die Wahrheit hinter den Worten – oder eben ihrem Mangel – einer Person erfahren werden. Musikwettbewerbe sind vielleicht schwieriger, aber obwohl die Nationalitäten und Biografien junger Künstler*innen neben ihren Namen angezeigt werden, konkurrieren sie im Wesentlichen immer noch als Einzelpersonen, was durch die Tatsache bestätigt wird, dass keine Nationalhymnen gespielt werden, wenn die Medaillen verteilt werden.
Sollten wir Solidarität nicht im Miteinander finden?
(Foto: Public Domain)Was mir auch aufgefallen ist, ist, dass die Initiativen, die sich in letzter Zeit am stärksten zu der Situation geäußert haben, diejenigen sind, die Solidarität und Trauer mit der Ukraine zum Ausdruck bringen, sich für die ukrainische Kultur einsetzen und Ukrainer*innen und Russ*innen als Friedensbotschaft auf der Bühne zusammenbringen. So widmete Nathalie Stutzmann letzte Woche die Aufführung von Mozarts Requiem der Ukraine, das sie mit dem Atlanta Symphony Orchestra dirigierte, und forderte das Publikum zuvor auf, für die ukrainische Nationalhymne aufzustehen. Oder das Benefizkonzert am kommenden Samstag im Art House Boswil in der Schweiz – einem kirchlichen Veranstaltungsort, der während des Kalten Krieges Austauschprogramme zwischen Künstler*innen aus der DDR und Ungarn veranstaltete – mit dem ukrainischen Geiger Andrej Bielow, der russischen Cellistin Anastasia Kobekina und dem Schweizer Pianisten Sean-Sélim Abdelmoula. Gespielt wird Musik ukrainischer, russischer und deutscher Komponist*innen, um Geld für die Nothilfe und ein Förderprogramm für junge Musiker*innen aus der Ukraine und Russland zu sammeln. Unterschätzen wir auch nicht die Macht des Visuellen. In den letzten Wochen wurde viel Blau und Gelb auf der Bühne getragen, und wenn dies zur Norm würde, solange russische Truppen ukrainische Zivilisten bombardieren, wäre dies ein ständiges, unumgängliches Statement. Vielleicht werden wir mit der Zeit auch klassische Komponist*innen sehen, die ukrainische Volksmusik hörbar oder verschlüsselt in ihr Werk einweben und damit ein neues Kapitel in der Geschichte der Protestmusik schreiben.
Das Lacrimosa aus Mozarts Requiem.
Ein letzter Gedanke zum Schluss, der mich in letzter Zeit herausgefordert hat und sich auf die verschiedenen Orchester bezieht, die Musiker*innen von entgegengesetzten politischen Seiten in unruhigen Regionen zusammenzubringen, wie das West-Eastern Divan Orchestra, das Pan-Caucasian Youth Orchestra und das Galilee Chamber Orchestra. Die Sache ist die, dass wir als westliches Publikum und Journalist*innen diese Initiativen nicht einfach nur bewundert haben. Wir haben erwartet, dass diese Musiker*innen es begrüßen werden, im Namen der kulturellen Verständigung zwischen Nationen zusammengebracht zu werden. Es war einfach, sie in unseren Konzertsälen willkommen zu heißen, wenn ihre politischen Hintergründe nicht die unserer eigenen Heimat sind. Die Frage ist nun, wenn es darauf ankommt, werden wir westlichen Musiker*innen und das Publikum in der Lage sein, die gleiche Pille zu schlucken, wie wir es von Musiker*innen in den älteren Krisenherden der Welt erwartet haben? Jetzt, da sich der Spieß umgedreht hat, sind wir der Herausforderung gewachsen? ¶