THE SOCIETY OF MUSIC: 22. März 2023

Kulturelle Entscheidungen

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Charlotte Gardner
Charlotte Gardner
22.03.2023

Wie wird ein Ereignis zu einem Wendepunkt und nicht etwa zum verhängnisvollen letzten Schritt, bevor es den Abhang hinunter geht? Genau diese Frage habe ich mir in der vergangenen Woche gestellt, gleich nachdem die BBC angekündigt hatte, die BBC Singers, den einzigen in Vollzeit tätigen Profichor im Vereinigten Königreich – und einen der wichtigsten “Anwälte” zeitgenössischer Musik–, aufzulösen, um „verstärkt in die Zukunft des Chorgesangs im gesamten Vereinigten Königreich zu investieren“. „Jährlich grüßt das Murmeltier“, möchte man hier allzu schnell denken, so kurz nach dem Versuch des Art Council England, der English National Opera die gesamte jährliche Finanzierung zu entziehen. Eine Entscheidung, die in ganz ähnlicher Weise im Namen der dynamischen Vielfalt und der nationalen Angleichung verschleiert wurde. Im Fall der ENO wurde die unüberlegte Widersinnigkeit dieses Vorstoßes von den Verfechtenden so deutlich und eindringlich klargestellt, dass nicht nur der größte Teil der Finanzierung (wenn auch derzeit nur für ein weiteres Jahr) wiederhergestellt wurde, sondern auch das öffentliche Interesse am Beitrag der ENO zum Musikleben im Vereinigten Königreich vermutlich nie so stark war. Die Frage ist nun, ob die aktuelle Kampagne zur Rettung der BBC Singers ähnlich erfolgreich sein wird.

Musik des zeitgenössischen Komponisten John Adams.

Was auch immer geschehen wird, ich gehe davon aus, dass die Entscheidung weitreichende Folgen haben wird. Wenn ich mir die Erklärung der BBC durchlese, klingt die Aussage, man wolle „aufstrebende und vielfältige Chöre fördern“, um „ein breites und zukunftsorientiertes Publikum anzusprechen“, sehr nach einer Fortsetzung des allgemeinen, bei der BBC spürbaren Trends, anspruchsvolle Inhalte im Programm auf ein Minimum zu reduzieren. Das Ziel: ein junges Publikum gewinnen – und mit den Einschaltquoten kommerzieller Sender konkurrieren. Die faulen Früchte dieses Trends sind überall erkennbar. Im ganzjährigen BBC-Fernsehprogramm ist der Anteil klassischer Musik verschwindend gering. Schaut man sich nur einmal die Startseite des BBC iPlayers an, könnte man meinen, klassische Musik als Genre sei nicht existent. Es geht nicht nur um die sendereigenen Ensembles. Ich frage mich ständig, warum die BBC ihr New Generation Artist Scheme nicht stärker in den Fokus rückt, auch bei den BBC Proms, einem Format, das in seiner internationalen Reichweite und Qualität seinesgleichen sucht und mit dem der Sender hier auf genau die Zielgruppe trifft, die man doch eigentlich ansprechen will. Auch wenn das BBC New Generation Artists-Programm die Gunst der Jugend auf seiner Seite hat – Beatboxing beherrschen sie dennoch nicht, und sie backen auch nicht.

Die Ironie daran, “Hochkultur” aus dem Mainstream-Programm zu nehmen, weil sie zu elitär scheint, besteht darin, dass man sie nur für die kulturelle Elite zugänglich macht – und das hat weit mehr als nur wirtschaftliche Gründe. So ist es nicht undenkbar, dass eine eher wohlhabende Mittelschicht nicht mit einer einzigen Note klassischer Musik in Berührung kommt. Das alles hat eine weitreichende Bedeutung, denn wenn man der Gesellschaft Kunst vorenthält, die sie zum Nachdenken, zur Empathie und zu einer differenzierten und vielschichtigen Auseinandersetzung mit verschiedensten Lebensentwürfen und Erfahrungen anregt, die sie aus dem eigenen Rahmen der unmittelbaren Umgebung herausführt, so muss man sich nicht wundern, wenn wir in der Folge zu einer Gesellschaft werden, die kulturell, emotional und ideologisch ziemlich arm dran ist. Vielleicht ist das der Grund, warum John Reith, zunächst Geschäftsführer der BBC und späterer Generaldirektor des Unternehmens, es als „völlige Abkehr jeglichen Verantwortungsgefühls“ bezeichnete, dem Publikum nur das zu geben, „was es will“. Ja, es ist zugegebenermaßen schwieriger sich in der heutigen Welt mit zwanzig Milliarden verschiedenen Fernsehkanälen und Streaming-Anbietern zu behaupten, aber das bedeutet nicht, dass nicht alle kulturellen Ausdrucksformen darauf warten, entdeckt zu werden … ganz einfach und kostenlos, und damit tatsächlich hörbar und sichtbarer Teil der kulturellen Unterhaltung einer Nation werden.

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Die BBC Singers.

Sollten wir tatsächlich die BBC Singers verlieren, einen der letzten wahrlich einzigartigen öffentlichen Institutionen der BBC, dann würde es mich nicht überraschen, wenn die Abwärtsspirale in Richtung einer Abschaffung der BBC-Lizenzgebühr eine vielleicht unaufhaltsame Dynamik entwickeln würde. Wenn jedoch die BBC Singers gerettet werden und diese Entscheidung zu einem Wendepunkt wird, der ein grundsätzliches Umdenken bei der Rundfunkanstalt mit sich bringt, dann hat dieses ganze Debakel auch etwas Gutes. ¶

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