Ich habe gerade eine Rezension über ein Buch des Chefkritikers für Kunst und Architektur der Washington Post, Philip Kennicott, geschrieben. Unter dem Titel Counterpoint: A Memoir of Bach and Mourning (“Kontrapunkt: Erinnerungen an Bach und Trauer”) erzählt Kennicott, wie ihn die tiefe Trauer über den Krebstod seiner Mutter angespornt hat, Bachs Goldberg-Variationen spielen zu lernen. Über seine Motivation schreibt er: “Ich habe mir nicht vorgemacht, sie jemals so perfekt zu beherrschen, dass ich mit meiner Interpretation zufrieden sein könnte. Es ging nicht darum, den lange verworfenen Traum, ein großer Pianist zu werden, noch einmal heraufzubeschwören. Vielmehr schien es mir eine Möglichkeit, das Leben auf die Probe zu stellen, Druck auszuüben, um zu schauen, ob noch etwas Lebendiges darin stecke. Ich wollte herausfinden, ob etwas, das tief in mir schlummert, nach langer Nichtbenutzung wieder reaktiviert werden könnte; ob ich mich lange genug darauf konzentrieren könnte, die Noten zu lernen.”
»Ich wollte Bach besser verstehen – und sehen, ob mein Geist beweglich genug ist, seine Musik nicht als wall of sound zu hören, sondern als Geflecht untereinander verwobener Stimmen. Im mittleren Alter wird die Frage ‘Schaffst du das noch’ so deutlich wie die Gewissheit in jüngeren Jahren, dass alles möglich sei.«
Wie das Zitat andeutet, weist der Titel “Kontrapunkt” weit über Bachs komplexe musikalische Strukturen hinaus. Er dient als Metapher dafür, was für Kennicott zu einem langen Prozess der Entdeckung wurde – und für uns zur bewegenden Lektüre. Im Mittelpunkt steht eine wesentliche Frage: was es bedeutet, ein Stück wirklich zu kennen. Das ist auch die Frage, über die ich mir selbst den Kopf zerbreche, seitdem ich das Buch gelesen habe – und eine glühende Kritik darüber geschrieben habe. Irgendwie ist es auch ein Freude, denn gerade auf so einer absolut nie zu beantwortenden Frage kann man mit Genuss und Gewinn herumkauen.
Vertrautheit und Kennerschaft sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.
(Foto: Public Domain)Ich habe als Geigenschülerin einige Werke so gründlich geübt, dass meine Finger noch immer zucken, wenn ich sie höre, genau wissend, wo sie auf dem Griffbrett liegen müssten – und welcher Griff als nächstes an der Reihe wäre. Bachs Doppelkonzert fällt in diese Kategorie. Noch zufriedenstellender ist es, die Sopran-Stimmen der Chorlieder zu summen, die ich während meiner Universitätsjahre im Cambridge Chapel Choir gesungen habe. Ich genieße das Bewusstsein für die inneren Harmonien, das mir diese Jahre gegeben haben. Aber heißt das, dass ich irgendeines dieser Stücke wirklich kenne? Ich würde sagen, eher nicht, vor allem wenn meine mangelnde Technik mich davon abhält, bestimmte Phrasierungen und Nuancierungen hinzubekommen. Vertrautheit und Kennerschaft sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.
Mir bleibt also das Hören, und damit komme ich dem Kennen jedenfalls näher. Selbst wenn ich die Musik nur genieß, verschafft mir das mehrmalige Hören eines Werks die Möglichkeit, zu erkennen, was passiert. Mehr noch, wenn ich dann ein paar Hintergrundinformationen zur Entstehung des Werkes lese. Als visueller Mensch (ist das eine Schwäche für jemanden, der mit Musik arbeitet? Vielleicht…) brauche ich eine Partitur in der Hand, wenn ich ein Werk im Detail entdecken möchte. Indem ich die Notenlinien, die Textur, die Angaben gedruckt auf Papier sehe, kann ich die Architektur des Werks verstehen. Wäre das der einzige Weg hin zum wirklichen Kennen, wären ungefähr drei Viertel des Konzertpublikums im Dunkeln verloren. Das ist natürlich Unsinn. Außerdem glaube ich wirklich nicht, dass irgendein Komponist für ein Publikum aus Musikwissenschaftlern schreibt, die im Saal sitzen und ihre Gesichter in die Partitur versenken. Aber bedeutet das, dass Komponisten Wissen über ihre Musik von gänzlich “ungeleitetem” Hören erwarten? Oder sehen sie “Wissen” nicht doch als wichtige Zutat dafür, dass Geschmack an ihrer Musik gefunden wird? Am Ende ist die Freude an Musik ein vor allem chemisches (und alchemistisches) Gefühl, basierend auf der Freude an geteilten Emotionen.
Wenn wir all das berücksichtigen, scheint es wahrscheinlich – falls die Frage überhaupt beantwortet werden kann –, dass die Antwort für jedes Individuum anders ausfällt. Die meisten Menschen werden es vielleicht überflüssig finden, sich die Frage überhaupt zu stellen. Doch für Hörer mit einer auch nur vagen analytischen Mentalität ist es eine faszinierende Fragestellung. ¶