In meiner letzten Kolumne habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie die Musikwissenschaft sich vor allem auf Komponist:innen fokussiert – klar zum Nachteil der historischen Interpret:innen. Dazu inspiriert hat mich der Fall Clara Schumann. Ich wollte damit aufzeigen, dass diese Herangehensweise unser allgemeines Verständnis musikalischer Werke limitiert. Meine weiteren Beispiele waren dann berühmte Komponist:innen, deren glanzvollen Karrieren als Interpret:innen völlig vergessen wurden – eine Liste mit Namen, die nahezu zwangsläufig nur aus Männern bestand. Daraufhin hat mich sofort eine Leserin kontaktiert, warum ich ich nicht stattdessen das Schicksal weiterer Frauen beleuchtet habe.
Guter Punkt. Diesen Monat also, zu Ehren der besagten Leserin, möchte ich genau das tun: Einige meiner liebsten historischen Interpretinnen in den Mittelpunkt stellen. Ich tappe jetzt mit Absicht nicht in die Falle, wieder einmal auf die ständig präsenten Opernsängerinnen zu verweisen, die damals schon berühmt waren und es heute noch sind. Ich konzentriere mich stattdessen auf die Instrumentalistinnen: Ein spannendes, aber auch frustrierendes Feld, bei der dünnen Informationslage.
Die ungarische Violinistin Jelly d'Aranyi.
(Foto: Public Domain)Meine absolute Favoritin bestätigt das, denn die Interpretinnen, die mich über die Jahre wohl am meisten fasziniert haben, sind wohl die jungen Frauen des Ospedale della Pietà in Venedig, wo Vivaldi den Großteil seines Lebens arbeitete und wirkte – und für die o ein gewichtiger Anteil seiner über vierhundert Virtuosenkonzerte entstand. Als Vivaldi seine Arbeit in diesem berühmten Waisenhaus antrat, beherbergte es um die 1000 junge Frauen – einige davon Waisen, andere waren unehelich geboren, oder die Eltern nicht in der Lage, sie aufzuziehen – , abgeschnitten von der Welt und als Nonnen gekleidet. Sie wurden unterteilt in diejenigen, die eine allgemeine Ausbildung erhielten, und die, die zu Elitemusikerinnen geschult wurden, die sonntags Konzerte spielten. Sie waren nur unter ihren Vornamen bekannt und mussten versteckt hinter eisernen Gittern spielen. Dennoch, diese Musikerinnen durften erleben, was kaum einer anderen respektablen Frau des 18. Jahrhundert möglich war: Eine Karriere als geachtete Künstlerin, die dazu noch in einem Umfeld leben konnte, das für damalige Verhältnisse erstaunlich offen war – und große Unterstützung mit sich brachte. Diesen Stars wurde häufig der Hof gemacht und die Heirat angeboten, andere blieben jedoch am Ospedale, um als Lehrerinnen zu wirken – und als Maestra zu gelten. Zum Beispiel die berühmte Maestra Anna Maria, eine tüchtige Cembalistin, Violinistin, Cellistin – die noch Viola d’amore, Laute, Theorbe und Mandoline spielte. Was täte ich dafür, mehr über sie zu erfahren.
Weiter geht es mit einer Violinistin, die ich entdeckt habe, als ich einen Beitrag für die Gramophone Collection geschrieben habe. Es ging um Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert, bei dem sich herausstellte, dass es nicht von einem männlichen Star der sogenannten Golden Age-Ära, wie zum Beispiel Kreisler, zum ersten Mal auf Tonträger aufgenommen wurde – sondern von der amerikanischen Violinistin Maud Powell (1867-1920), die in Berlin mit Brahms’ Freund Joseph Joachim studiert hatte. Sie war die erste Künstler:in, die die neuartige Aufnahmetechnik nutzte. Ihre Aufnahme – in gekürzter Fassung, aufgrund der limitierten Kapazität, mit Klavierbegleitung statt Orchester – kam 1904 heraus, in dem Jahr, in dem sie mit der Victor Talking Machine Company zu arbeiten begann. Trotz allem Kratzen und Zischen hört man den Pfiff und die Originalität, mit recht flottem Tempo, Beweglichkeit, voller herabstürzender portamenti, die für diese Zeit so typisch waren, elegant vorgetragen. Powell hat zudem eine enorme Menge an Repertoire zwischen 1904 und 1917 hinterlassen – ihre Diskographie zeichnet ein faszinierendes Bild einer Interpretin, die Horizonte erweitert. Ich liebe diese schwere, würdevolle Wärme ihrer Bach-Interpretationen. Es lohnt sich, ihr Arrangement von Händels Ombra mai fu mit Bläserbegleitung zu entdecken.
Maud Powells Arrangement von Händels »Ombra mai fu«.
Ich kann nicht aufhören, ohne die ungarische Violinistin Jelly d’Aranyi (1893-1966) zu erwähnen, eine Schülerin von Joseph Joachim, die sich in London niedergelassen hatte. Die Verbindung von Leidenschaft und Virtuosität ihres Spiels führten einen Wiener Kritiker dazu, ihr 1908 nachzusagen, sie hätte “den Teufel in ihrem Körper”. Eines ihrer größten Vermächtnisse an die musikalische Welt ist, dass sie 1924 Maurice Ravel inspirierte, seine Tzigane zu schreiben, nachdem er sie ungarische Volksmusik spielen hörte. Außerdem entdeckte sie 1933 Schumanns lange verschollenes Violinkonzert wieder. Ihre Diskographie ist leider sehr klein; aber 1935 nahm sie eine warmherzige Interpretation von Brahms’ Klaviertrio Nr. 2 auf – mit dem Cellisten Gaspar Cassado, einer anderen wichtigen Persönlichkeit der Musikszene Großbritanniens in den frühen 20er Jahren, und der Pianistin Dame Myra Hess, die für ihre Brahms-Interpretationen berühmt war.
Noch einmal großen Dank an die Leserin: Ich hoffe, es ist zumindest ein Name gefallen, der neu für Sie war. ¶