Wahrscheinlich sollte es nicht so sein, dass der vierzig Wörter umfassende Teaser, den man für eine Kommentarseite schreibt, tiefgründigere Gedanken in einem hervorruft als das Werk selbst, zu dem der Teaser gehört. Doch wenn ich mir die aktuelle Mai-Ausgabe des Gramophone Magazines zur Hand nehme, ist genau das der Fall. Das liegt nicht daran, dass ich den Artikel geschrieben habe ohne richtig darüber nachzudenken. Der Teaser gehört zum Festivalführer 2023 des Magazins – einem Werk, das in literarischer Hinsicht zunächst einmal nicht mehr als ein Kompendium von Auflistungen ist, das aber auch, und daran wurde ich sofort erinnert als ich meine vierzig Worte schrieb, als Wegweiser zu den vielleicht bewegendsten musikalischen Erfahrungen des Jahres 2023 betrachtet werden sollte. Oder, um es mit meinen eigenen Worten zu sagen: Es hat etwas mit dem Verlassen der gewohnten Konzertsaalumgebung zu tun – sei es nun das alte Gemäuer einer Kirche oder irgendein historisches Gebäude, ein Festival-Zelt oder ganz im Freien –, das Künstlerinnen und Künstler genau wie das Publikum auf eine ganz neue Weise empfänglich macht und ein anderes, ganz besonderes Spielen und Hören ermöglicht.
Wenn ich vor meinem inneren Auge über meine Festival-Besuche nachdenke, kommt mir der letzte aus dem vergangenen Januar in den Sinn, als ich dank der Sommets Musicaux de Gstaad den Bariton Peter Mattei und den Pianisten David Fray mit Schuberts Winterreise in der mittelalterlichen Kirche Rougemont gehört habe. Es ist nicht so, dass es nicht auch andernorts die Gelegenheit gegeben hätte, ihre außergewöhnlich, dunkel-schattierte, erstaunlich dramatisch-potente Lesart des Zyklus’ zu hören. Aber wie oft hört man schon die Winterreise in einer schneebedeckten Kirche an einem ganz stillen, eiskalten Januarabend? Die Kombination aus der herausragenden Interpretation und der ganz besonderen Kulisse zauberte eine solche Wirkung, dass man zum Ende von Der Leiermann die Luft hätte schneiden können. Der Abend war schlichtweg unvergesslich und ich werde diesen Zyklus wahrscheinlich nie wieder hören, ohne mich dabei an den Abend in der Kirche Rougemont zu erinnern.
Der alte Palast von Hatfield House in Hertfordshire
Sprechen wir doch einmal über ein Festival, das morgen in eine neue Saison startet: die BBC Proms. Wenn es je ein Festival geben sollte, das einmal nicht funktionieren könnte, dann sind es die Proms. Denn ihr Haupveranstaltungsort ist ein gewaltiges Amphitheater mit einer wirklich schrecklichen Akustik und einer Kapazität von 5.500 Plätzen. Doch auch hier drehen sich die Namhaftesten vom Dirigierpult in aller Regelmäßigkeit um, um sich einem wohlwollenden und freudig reagierenden Publikum zuzuwenden. Hier ist auch der Ort, an dem man die verrücktesten und kreativsten Zugaben im Konzertbetrieb erwarten darf. Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, mich von einem wenig interessanten Programm abschrecken zu lassen – denn aus Erfahrung weiß ich, dass trotzdem immer wieder irgendeine Art von Magie entsteht.
Brahms‘ Ein Deutsches Requiem im Alten Palast von Hatfield House in Hertfordshire. Das Shanghai Symphony Orchestra mit einer rasenden Interpretation von Hey Jude in der Royal Albert Hall; die Geigerin Vilde Frang und Bratschist Lawrence Power erzeugten einen ganz ähnlich unerwarteten Moment, als die beiden ihre Instrumente tauschten um ein wirklich witziges Twinkle Twinkle Little Star zu spielen. Murnaus Nosferatu mit Live-Orgel und Percussion-Soundtrack in einer spartanischen, höhlenartigen Göttinger Kirche. Messiaens Quatuor pour le fin du Temps im Camp de Milles in Aix-en-Provence. Brahms‘ Sinfonie Nr. 2 unter dem Sternenhimmel von Tsinandali. Das sind nur ein paar Festivalmomente, an die ich immer wieder denken werde. Und ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie am Ende dieses Sommers ihre ganz persönliche Liste entweder begonnen haben oder sie um ein paar Sternstunden erweitern konnten. ¶