THE SOCIETY OF MUSIC: 5. Oktober 2022

Ein musikalisches Geschenk

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Charlotte Gardner
Charlotte Gardner
05.10.2022

Seit ich meine letzte Kolumne geschrieben habe, hat Großbritannien seine Königin verloren, einen König gewonnen und zwei Trauerfeiern in die Welt übertragen, bei denen Musik – darunter zwei kraftvolle, neu in Auftrag gegebene Werke von Judith Weir und Sir James MacMillan – eine wesentliche Rolle spielte. Musik als Konzentrat der Trauer einer Nation, ihr Erbe und die eigene unerschütterliche christliche Hoffnung von Königin Elizabeth II. selbst. Meine musikalischen Erinnerungen an diese Ereignisse beginnen jedoch elf Tage früher, am Abend der ersten Nachricht. Nachdem also bereits viel über die Trauerfeiern geschrieben wurde, werde ich stattdessen von dieser Nacht erzählen.

Der 8. September hier in London hatte vielversprechend begonnen. Die BBC Proms gingen in ihre letzte Woche, und an diesem Abend fand in der Royal Albert Hall das erste von zwei Konzerten eines der größten Juwelen der Saison statt – dem Philadelphia Orchestra unter seinem Musikdirektor Yannick Nézet-Séguin. Auf dem Programm stand Barbers Knoxville: Summer of 1915 und die UK-Premiere von Valerie Colemans This Is Not A Small Voice mit der Sopranistin Angel Blue, dann Beethovens Eroica-Symphonie. Also, gutes Zeug. Ab der späten Mittagszeit begann jedoch das allmähliche Crescendo ernüchternder Neuigkeiten über den Gesundheitszustand der Königin. Das bedeutete, dass die anderthalbstündige Reise mit dem Zug, die mir bevorstand, wahrscheinlich mit der gefürchteten Ankündigung endete, dass das Proms-Konzert abgesagt wurde. Trotzdem verließ ich das Haus und stieg in diesen Zug. Sollte die Nachricht dann kommen, dann wollte ich sie im Kollektiv der Menschen in London empfangen – und nicht zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Tatsächlich hatte ich die Hoffnung, dass die Nachricht vielleicht erst während des Konzerts  bekannt wird und dass vielleicht die Nationalhymne gespielt wird, bevor wir das Gebäude verlassen – eine passende Art, den Tod unserer Königin zu betrauern und das Ende des zweiten Elisabethanischen Zeitalters zu markieren.

Elizabeth

Königin Elisabeth II.

(Foto: Public Domain)

Dann kam die Nachricht, während ich in der U-Bahn war. Obwohl das Konzert abgesagt wurde, durften Ticketinhaber*innen das Philadelphia Orchestra spielen hören. Das muss das wohl kürzeste Proms-Konzert aller Zeiten gewesen sein – nur die Nationalhymne, gefolgt von Elgars Nimrod.

Es wird viel über die Kraft der Musik gesprochen, Emotionen auszudrücken, wo Worte versagen, und ich werde Nézet-Séguin und dem Philadelphia Orchestra für immer dankbar sein für das, was sie uns an diesem unwirklichen Abend gegeben haben. Die Hymne bot einen Weg, mit der Verarbeitung der Ereignisse zu beginnen. Was soll man dann über ihr Nimrod sagen? Sie interpretierten es so sanft; von gedämpften, zärtlich gleitenden, leichtfüßigen Anfängen zu einem sanften, meisterhaften Höhepunkt, der, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, zu sagen schien: „Wir wissen es und wir fühlen mit Euch.“ Als der balsamierende Schlussakkord verklungen war – anhaltendes Schweigen und Stille. Nicht einmal ein Handy brach den Bann. Dann endlich ein leises Wort von Nézet-Séguin: „Danke.“

"Nimrod" aus Edward Elgars "Enigma-Variationen".

Das „Danke“ ging von uns an die Musiker*innen. Zweifellos hätte uns auch ein britisches Orchester etwas liefern können, das in den Moment passte. Aber zumindest für mich hatte diese erste musikalische Antwort, die stattdessen von einem amerikanischen Orchester kam, etwas besonders Kostbares. Den ganzen Weg zu reisen, nur um am Ende zwei kurze Stücke zu spielen, muss für sie in gewisser Weise schrecklich entmutigend gewesen sein. Sollten sie es so empfunden haben, dann haben sie es nicht gezeigt, und ich kann nicht die einzige im Saal gewesen sein, die tief bewegt und dankbar war für diese zärtlich artikulierten musikalischen Trostworte dieser Besucher. Ich werde es nie vergessen, und ich hoffe, sie auch nicht. ¶

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