Das Wesen der Musikkritik habe ich in dieser Kolumne schon häufig thematisiert, aber nie so ausführlich wie nun hier, bedingt durch eine Diskussion in der Sendung “Music Matters” auf BBC Radio 3, an der ich letztes Wochenende zusammen mit Richard Morrison von der Times teilnehmen durfte. Unser Ausgangspunkt war eindeutig: Wir wurden gebeten, die Rolle des Musikkritikers zu definieren und woraus eine Kritik eigentlich bestehen sollte. Allerdings vor dem Hintergrund, dass professionelle Kritiker ihre Existenz immer mehr vor Amateur-Bloggern rechtfertigen müssen, und vor Zeitungen, die ihre Berichte über klassische Musik in kontinuierlich schrumpfende Satzspiegel pressen.
Dieser Trend zeigt sich unter anderem beim “Response”-Projekt, das die English National Opera vergangenen September gestartet hat. Das Haus bietet professionellen Kritikern keine Tickets mehr für eine Begleitung (die traditionelle Vorgehensweise), sondern vergibt die zurückgehaltenen Plätze an zehn ausgewählte Jung-Kritiker, die von der ENO gecoacht und deren Texte dann auf der ENO-Webseite veröffentlicht werden. “Wir glauben, Menschen sollten die Möglichkeit haben, Opern emotionaler zu betrachten”, erklärt ENO-Geschäftsführer Stuart Murphy. “Nicht nur von einem technischen Standpunkt, bei dem es darum geht, wie ein Teil des Orchesters gespielt oder die Sopranistin gesungen hat. Die Frage ist vielmehr, hat es Sie zu Tränen gerührt, hat es Sie glücklich gemacht”.
Nun gut. Ich frage mich, ob hier nicht Kritiker-Neulinge im Umfeld eines Interessenskonflikts angelernt werden. Außerdem spielt die Begleitung durchaus keine unwesentliche Rolle für professionelle Kritiker, weil diese, zum einen, viele Abende mit der Arbeit zubringen müssen und schon etwas Gefahr laufen, sich von ihrer Familie und ihren Freunden zu entfremden. Da geht es auch um Lebensqualität. Andererseits können wir natürlich aufstrebende professionelle Kritiker als Begleitung unter unsere Fittiche nehmen. All diese Punkte wurden in unserer Diskussion angesprochen, und ich glaube, die Lanze, die wir für professionelle Kritik gebrochen haben, verdient es, hier in geschriebener Form wiederholt zu werden.
Die geschriebene Kritik: Aussterbend?
Ich möchte mit der Tatsache beginnen, dass es bestimmt höchst sachkundige Amateur-Blogger gibt, diese aber keinen Ersatz für Menschen darstellen, die wirklich in der Materie sind. Als professionelle Kritikerin verbringe ich jeden Tag damit, mit Künstlern zu sprechen, Konzerte zu besuchen, Aufnahmen zu analysieren, Anmerkungen für Konzertprogramme zu schreiben und mit dem Flugzeug um die Welt zu reisen, um herauszufinden, was jenseits der Heimat gerade relevant ist. Dadurch kann ich Dinge in einen Kontext setzen, den jemand mit einem nicht musikalischen Hauptberuf nicht liefern kann.
Des Weiteren ist technisches Verständnis unabdingbar, um einem Leser, der ein Konzert nicht live miterlebt hat, davon berichten zu können. Wenn Sie zum Beispiel von der Premiere eines Cello-Stücks lesen, welches sich arabischer Musiktraditionen bedient, was hilft Ihnen dann eher dabei, sich das Ganze vorstellen zu können: Wenn man Ihnen sagt, dass man den Wüstensand quasi auf seinem Gesicht spüren und die exotischen Gewürze riechen konnte – oder dass der Komponist Vierteltöne, bekannt aus der nahöstlichen Musik, verwendet und den Klang der für die Region typischen Reed Flute imitiert hat, indem er den Cellisten luftige Obertöne auf der tiefsten Seite spielen ließ? Im Grunde fügen Emotionen und Adjektive wichtige Nuancen hinzu, aber die Essenz einer Kritik liegt in den Verben.
Und um beim technischen Wissen zu bleiben: Wenn Künstler selbst ihr Leben damit verbracht haben, nach den höchsten technischen Standards zu üben, verdienen sie Kritiker, die ihrerseits ausgebildet sind und genau verstehen, was sie da tun. Ich habe tatsächlich noch keinen Künstler getroffen, der gerne von jemandem kritisiert werden möchte, der kein Profi ist. Künstler wollen Genauigkeit und Sorgfalt. Insbesondere, wenn die Kritik nicht durchweg positiv ausfällt. Und natürlich freuen sie sich über eine karrierefördernde Rezension von einem anerkannten Spezialisten.
Künstler möchten außerdem, dass auch die verdientermaßen schlechteste Kritik nicht vergisst, dass sie menschliche Wesen sind. Weil wir professionelle Kritiker oft mit den Künstlern selbst oder zumindest ihrem Team bekannt sind, ist es für uns leichter, auf den guten Ton zu achten, während wir unserer professionellen Pflicht nachgehen, über Konzerte oder Aufnahmen zu berichten, so wie wir sie wahrgenommen haben.
Die Rezension eines professionellen Kritikers muss sich außerdem vor einem Redakteur verantworten, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangt. Und das ist wichtig, weil (Achtung, Beichte…) wir ab und zu vor uns selbst geschützt werden müssen – sei es wegen eines dummen sachlichen Fehlers oder einem tatsächlichen Aussetzer des Urteilsvermögens. Blogs haben dieses Sicherheitsnetz nicht.
Darum ist professionelle Kritik weiterhin wichtig. Finden Sie nicht auch? ¶