Besonders oft passiert es ja nicht, dass man als Londoner Musikkritikerin bei einem Symphoniekonzert etwas völlig Neues erlebt – ein Orchester, das man noch nie gehört hat, und Komponisten, von denen man noch nie gehört hat. Genau das aber geschah mir vor einigen Wochen. Im Barbican Center in London machte das Armenische Staatsorchester Halt auf seiner allerersten Europatournee, die unter dem Leitgedanken stand, “einen neuen Schritt, die kulturellen Brücken zwischen den Völkern Armeniens und Europas” zu wagen. Die Tour führte sie durch Deutschland, Österreich, Tschechien und Russland.
Das Orchester ist sehr jung, erst 2005 gründete es der Dirigent Sergey Smbatyan. Seinen mittlerweile vollen Terminkalender haben in der Vergangenheit Auftritte im Wiener Musikverein, in der Hamburger Elbphilharmonie und in der Pariser Opéra Garnier gefüllt. Es ist außerdem das Residenzorchester der Khachaturian International Competition seit 2007. Und so kam eine interessierte Schar von Journalisten zum jemals ersten Konzert im Vereinigten Königreich des Orchesters zusammen – und niemand war wohl so gespannt wie ich als Streicherspezialistin.
Das Armenian State Symphony Orchestra im Barbican Centre in London.
(Foto: ASSO)Warum? Egal, welchen Streicherexperten Sie danach fragen, alle werden über die außerordentliche, russischen Tradition beim Spielen der Streichinstrumente schwärmen, die regelmäßig Instrumentalisten mit einer wundervollen Technik und Intonation hervorgebracht haben, wie auch mit einem sehr warmen Klang. Diese Tradition setzte sich auch in den Post-Sowjetstaaten wie Aserbaidschan und Armenien fort. Es ist außerdem noch einer der wenigen Orten auf der Welt, wo man tatsächlich noch einen typisch nationalen Orchesterklang hört, denn in diesen Orchestern spielen deutlich weniger Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen als in Großbritannien oder Europa. Ihre Mitglieder wurden vor allem nach der russischen Schule ausgebildet. Diese Länder haben noch eine Gemeinsamkeit, nämlich das Fehlen einer Ausbildung beim Orchesterspiel auf einem Niveau von Musikkonservatorien.
Ich habe letztes Jahr in Georgien das erste Tsinandali Festival besucht. Die größte Schwierigkeit für das residierende Pan-Caucasian Youth Orchestra war dort sowohl das Orchesterrepertoire zu lernen, als auch den anderen zuzuhören und nicht als eine Gruppe von Solisten zu spielen. Es mag fast unglaublich klingen, aber ich habe mal einen Studenten aus dem dritten Jahrgang an Armeniens Yerevan Konservatorium getroffen, der mir erzählte, dass dort erst ein halbes Jahr zuvor ein Orchester gegründet wurde. Und das, obwohl allen Studierenden klar war, dass nicht jeder ein Solist sein kann. Aber die Studenten des PCYO haben schnell gelernt und hervorragende Resultate beim Festival gezeigt. Mir wurde sogar erzählt, dass sie überboten hatten, was das Verbier Festival Orchestra in seinem ersten Jahr erreicht hatte. Ich hätte also das Barbican-Konzert um nichts in der Welt verpassen wollen, so neugierig war ich, dieses ausschließlich in Armenien groß gewordenen Orchester zu hören.
Dass es nach dem Konzert standing ovations gab, zeigt gut wie es lief. Es war alles da: ein sagenhafter Klang in Verbindung mit einem herrlichen Orchesterzusammenspiel, das von keinem aufsässigen möchtegern-Solist gestört wurde. Neben dem Repertoire, mit dem das westeuropäische Publikum gelockt wurde (Bruchs Violinkonzert und Ravel’s Tzigane mit dem Solisten Maxim Vengerov), war es vor allem das zentrale Werk der ersten Programmhälfte, das die größte Wirkung hatte: die zweite Symphonie The Fate of Man vom armenischen Komponisten John Ter-Tatevosian (1926-1988). Üppig orchestriert, sehr kraftvoll, oft hinreißend schön, und in einer faszinierenden Klangsprache, die unverwechselbar Ost und und West miteinander verbindet. Ich wollte dementsprechend mehr davon, was kein leicht zu erfüllender Wunsch war, denn nichts von dieser Musik gibt es weder auf Apple Music noch Spotify. Glücklicherweise habe ich das ASSO letztlich auf SoundCloud gefunden, wie sie selbst die Symphonie Nr. 2 spielen, live beim Armenian Composers Art Festival 2017 – das als Tipp, sollten sie interessiert sein. Großartig wäre, wenn sie es einmal professionell aufnehmen könnten. Für die Zwischenzeit: Sollten Sie die Gelegenheit bekommen, dieses Orchester live zu hören, dann nehmen sie sie wahr. ¶