THE SOCIETY OF MUSIC: 8. April 2020

Scheitert die Freiheit?

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Benedikt Stampa
Benedikt Stampa
08.04.2020

Am Abend des 4. April, einem Samstag, öffnete ich mit meiner Frau und meinem Sohn eine Flasche französischen Rosé. Der Wein stammt aus der Provence und trägt den schönen Namen „Chateau de Hippolyte“. Wir stießen an auf etwas, was an diesem Tag hätte stattfinden sollen, aber nicht stattgefunden hat. Wir stießen an auf die „Premiere“ des Fidelio bei den Osterfestspielen in Baden- Baden. Es war ein merkwürdiger Moment.

Eigentlich hätte ich genau zu dieser Zeit in Baden-Baden im Festspielhaus erwartungsfroh meine ersten Osterfestspiele eröffnet. Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko würden die Inszenierung von Mateja Koleznik musikalisch begleitet haben. Hinter uns lägen Wochen der intensiven Proben.
Das Bühnenbild habe ich noch fast fertig gesehen. Die Sänger waren versammelt und probten in großer Konzentration. Mateja Koleznik hatte ihren interpretatorischen Ansatz sehr früh gefunden; er war ein skeptischer Ansatz – auch europakritisch. Nicht dass Mateja Koleznik den europäischen Gedanken ablehnt oder politisch separatistisch wäre; Sie hat nur wenig Hoffnung, dass die Gemeinschaft soldarisch funktioniert. Daher sieht sie „Fidelio“ auch nicht als eine „Erlösungsgeschichte“, sondern sie hätte die Handlung den sterbenden Florestan aus der Perspektive des Scheiterns erzählen lassen.

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Gefangen und machtlos in Ketten: Für wen kann Florestan heute stehen?

Ein interessantes Gedankenexperiment.
Dann kam Corona. Die Katastrophe bahnte sich schleichend an. Alle im Festspielhaus wussten Bescheid, der Virus kommt und wird alles lahm legen. Die Künstler probten dennoch konzentriert weiter. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Schließlich war es soweit. Ich musste den Künstlern mitteilen, dass die Proben ausgesetzt werden. Kirill Petrenko und Mateja Koleznik standen neben mir. Jeder wusste, was das zu bedeuten hatte. Das Ende des Fidelio und das Ende der Osterfestspiele 2020 in Baden-Baden.
Mittlerweile sind schon wieder fast drei Wochen vergangen. Die Welt ist heute eine andere. Und wer noch vor wenigen Monaten dachte, die Freiheit ist ein selbstverständliches Gut, das unumstößlich zu unserer westlichen Demokratie gehört, wurde eines besseren belehrt. Die Grenzen sind dicht, das Virus überall. Nun wird – auch bei uns in Deutschland - schon über Geo-Tracking gesprochen, um die „Infizierten“ zu orten. Ein unheimlicher Gedanke.

Dieses Motto aus Fidelio hatte ich für meine Spielzeit gewählt. Welch eine doppelte und bittere Ironie der Geschichte. Das Virus macht uns krank und raubt uns die Freiheit. ¶

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