THE SOCIETY OF MUSIC: 21.Oktober

Große Geste

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Benedikt Stampa
Benedikt Stampa
21.10.2020

Es sind künstlerische Grenzsituationen in der Corona-Krise, denen man unweigerlich ausgesetzt wird, die Normen und Maße sprengen: Wir alle wissen jetzt, mit Künstlern über zukünftige Projekte sprechen, gar Strategien entwickeln, ist alles derzeit nur schwerlich denkbar. Wir alle kämpfen gerade ums „Überleben“ in den nächsten Wochen und Monaten. Egal mit wem man spricht, Kollegen aus anderen Häusern, Künstlern, Ensemble-Leitern, Musikern; den meisten geht es nicht gut. Natürlich ist man dann froh über einen einigermaßen gelungenen Saisonstart. Endlich wieder spielen, auch wenn das Publikum nur spärlich vertreten sein darf. Hauptsache Bühne, Hauptsache Scheinwerferlicht, Hauptsache den Duft des Theaters einatmen. Ja, so pathetisch darf es sein!

John Neumeier hatte zur Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden mit Ghost Light extra ein Ballett zur Corona-Krise choreographiert. Das „einsame“ Bühnenlicht, das nach Probenende platziert wird, um zu signalisieren, dass nun keine Seele mehr die Bühne betreten darf, wird hier zum Ausgangs - und Mittelpunkt einer Erzählung über Einsamkeit und Hoffnung, Widerstand und Resignation. Als Musik wurden Impromtus und Moment Musicaux von Franz Schubert gegeben. David Fray, der junge französische Pianist, brachte das Kunststück fertig, an vier Abenden jeweils fast zwei Stunden ohne Pause die Tiefen der Musik Schuberts konzertierend und konzentriert auszuloten und die Tänzer kongenial zu begleiten.
John Neumeier ist ein erfahrener Bühnenprofi. Jahrzehntelang schon steht er an der Spitze seiner Compagnie. Er hat viel gesehen. Und doch, seine Augen waren voll Tränen, als er auf der Bühne stand und den Schlussapplaus eines bewegten Publikums entgegennahm. An diesem Abend zählte nur der Moment, die Zukunft konnte warten.

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Benedikt Stampa und John Neumeier bei der Pressekonferenz zu Ghost Light.

(Foto: Festspielhaus Baden Baden)

Wie unberechenbar die Corona-Krise ist, zeigte sich auch ein paar Tage später. Teodor Currentzis und das Mahler Chamber Orchestra hatten im Festspielhaus für Proben „Unterschlupf“ gefunden. Anschließend sollte es nach Köln in die Philharmonie gehen. Dann kam es faustdick. In Nordrhein-Westfalen wurde die Versammlungsvorschriften kurzfristig geändert. Einen Tag vor dem Konzert kam die Nachricht, dass nur noch 250 Personen statt über 1000 in der sonst über 2000 Besucher fassenden Philharmonie beim Konzert zugegen sein durften. Ein nicht nur finanzielles Desaster. Das Konzert stand vor dem Abbruch. Hektisch wurden Alternativen diskutiert. Abbruch, Abreise oder Ersatzkonzert beispielsweise in der Elbphilharmonie, wo gerade Jordi Savall einen Beethoven-Zyklus wegen Corona-Fällen in seinem Ensemble absagen musste. Hier hätte das Mahler Chamber Orchestra einspringen können. Es wäre eine logistische Herausforderung der Sonderklasse. Die Musiker waren bereit, für ihr Konzert diese Tortur auf sich zu nehmen.

Dann entschied Louwrens Langevoort, der Intendant in Köln, im Sinne der Kunst. Egal wieviel Zuschauer zugelassen sind, egal wie hoch das Defizit sein wird, das Konzert soll (dann mit Wiederholung) wie geplant stattfinden. Eine mutige und gute Entscheidung. Und eine große, eine spontane Geste dazu, die zeigt, wie wir als Kunstschaffende zusammenhalten können und müssen, aber auch, welche Flexibilität verlangt ist. Grenzsituationen eben. ¶

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