Musikgeschichten: 20. November (1889)

Mahlers Erste: Die „kühnste Visitenkarte“

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Monika Beer
Monika Beer
20.11.2020

Der Mahler-Kenner und -Biograf Jens Malte Fischer hat es auf den Punkt gebracht:

»Ein Erstling, der es in sich hat, sicherlich die kühnste symphonische Visitenkarte der ganzen Musikgeschichte.«

1884/85, im Zuge seiner Lieder eines fahrenden Gesellen, von denen zwei in die erste Symphonie einfließen sollten, begann der bis dato nur als Dirigent und Liedkomponist in Erscheinung getretene Gustav Mahler mit der Konzeption. Den Löwenanteil seiner Ersten komponierte er zu Beginn des Jahres 1888 und schrieb einem Freund über das fertige Opus: „Es ist so übermächtig geworden – wie es aus mir wie ein Bergstrom hinausfuhr!“

Mahler
Gustav Mahler in jüngeren Jahren. (Foto: Creative Commons)

Der Sturm und Drang kam nicht von ungefähr. Wie Mahler später bestätigte, stand er damals unter dem Eindruck seiner Liebe zu Marion von Weber, der Frau des Enkels von Carl Maria von Weber. Das habe sich allerdings nur auf sein Gefühlsleben und keineswegs auf den Inhalt des Werkes niedergeschlagen. Bei der Uraufführung am 20. November 1889 in Budapest, die Mahler dirigierte, war das Werk, das Leben und Leiden eines jungen Helden beschreibt, als „Symphonische Dichtung in zwei Teilen“ tituliert und wurde noch in der fünfsätzigen Form gespielt. Das Publikum, das aus „Mahlerfreunden und Mahlerhassern“ bestand, reagierte mit Gelächter und Zischen. „Im Lärm des Parteikampfes“, berichtete Karl Kraus, „war von den komischen Orchesterklängen nichts mehr zu hören.“

Yannick Nézet-Séguin dirigiert den zweiten Satz von Mahlers Erster.

Für die Aufführung 1893 in Hamburg überarbeitete Mahler das Werk und versetzte seine „Tondichtung“ mit dem poetischen Titel Titan. Erst bei der Berliner Aufführung der wiederum revidierten, dann viersätzigen Fassung 1896 benutzte er erstmals das Wort „Symphonie“ und verzichtete auf weitere programmatische Erklärungen. Dem Kritiker Max Marschalk schrieb er:

»Ich weiß für mich, daß ich, solang ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiß keine Musik hierüber machen würde. Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in die andere Welt hineinführt; die Welt, in der Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen.«

Sogar als er im Dezember 1909 in New York sein Jugendwerk zum letzten Mal dirigierte, überarbeitete Mahler nochmals die Orchesterstimmen. Ohne „besondere Resonanz“, wie er Bruno Walter schrieb (der zwei Jahre später, – ebenfalls am 20. November, aber das ist eine andere Geschichte – die Uraufführung des Liedes von der Erde dirigieren sollte). Mahler hingegen reagierte intensiv:

»Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft. So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm erscheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer.« ¶

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