Gerumse, Gewummer und Geknall, dazu noch Feuerwerke und flimmernde, bengalische Lichter in schrillen Farben. Es ist der 15. Juni 1854, Louis-Antoine Julliens Musikrevue im Londoner Crystal Palace hat über 42.000 Besucher angelockt. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Es folgt die Fireman’s Quadrille mit echtem Feuer, echten Feuerwehrleuten, echtem Wasser – die Frauen schreien vor Angst und werden ohnmächtig. Es ist eine Kakophonie des Lärms, im Hintergrund noch etwas Musik.
Auch Strauß Sohn schrieb gerne Quadrillen.
Solche Massenkonzerte, heute als gern als Event betitelt, waren seit den frühen 1830ern in Paris äußerst beliebt geworden. Der französische Dirigent und Komponist Philippe Musard verkomponierte dafür berühmte Melodien aus den gängigsten Opern und mischte daraus Cancans und rasante Quadrillen, französische Tänze. War die Stimmung am Siedepunkt, ließ er gerne Pistolenschüsse abfeuern, so entstand ein riesen Lärm, Tumult und Gebrüll. Musik? Völlig egal, Hauptsache es knallt. Louis-Antoine Jullien, “der schöne Jullien”, war Musards größter Konkurrent. Von den Frauen wurde er als Tanzgott verehrt und hatte dazu noch den Längsten:
»Louis George Maurice Adolphe Roche Albert Abel Antonio Alexandre Noë Jean Lucien Daniel Eugène Joseph-le-brun Joseph-Barême Thomas Thomas Thomas-Thomas Pierre Arbon Pierre-Maurel Barthélemi Artus Alphonse Bertrand Dieudonné Emanuel Josué Vincent Luc Michel Jules-de-la-plane Jules-Bazin Julio César Jullien.«
(Passt das so überhaupt in einen Pass?)
Nein, das sind keine Brüder, Cousins und Onkel der Großfamilie Jullien, sondern es ist eine einzige Person. Vater Antonio Jullien war Geiger und wurde seinerzeit eingeladen, ein Konzert für die Sisteron Philharmonic Society spielen. Zu dieser Zeit stand gerade die Taufe seines Sohns ins Haus und der Anstand gebührte es, im Orchester nach einem Paten zu fragen. Unglücklicherweise waren alle 36 Musiker dazu bereit, somit hieß der arme Junge am Ende unter anderem viermal Thomas.
Louis-Antoine, so sein Rufname, studierte am Pariser Conservatoire und widmete sich schnell der leichten Unterhaltungsmusik. Während sein Antagonist Philippe Musard noch eine kleine Pistole abfeuerte, bombardierte Jullien das Publikum gleich mit ganzen Artilleriesalven, zum Beispiel in seiner Hugenotten-Quadrille. Im Laufe der Zeit dachte sich Jullien immer aberwitzigere Showeffekte aus: Erstaunlich realistisches Hundegebell im Orchester, schrill-bunte Transparente oder lautes Glockengeläut. Doch irgendwann war das Publikum in Paris vom Lärm und Trubel übersättigt. Jullien musste ein Jahr nach dem Einbruch der Besucherzahlen hoch verschuldet nach London flüchten, wo er noch einen letzten Erfolg mit eben jener bombastischen Fireman’s Quadrille feierte. Doch dann war der Glanz passé: 1854 kehrte Jullien nach einem Abstecher über New York nach Paris zurück, fünf Jahre später saß er wegen seiner Schulden im Gefängnis. 1860 verendete er schließlich tragisch in einer Irrenanstalt.
Die Mammutkonzerte überlebten ihn, nicht zuletzt hatte diese Musik Einfluss auf Hector Berlioz, der die Überwältigungsästhetik in Reinform komponieren konnte. Auch für die Gegenwart waren diese Konzerte prägend. Denn was ist bei einem Helene Fischer-Konzert heute wichtig: Die Musik, oder die Show? ¶