Musikgeschichten: 7. Mai (1953)

Callas verwandelt sich in Medea

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Holger Noltze
Holger Noltze
07.05.2017

“Ah, quale voce”, was für eine Stimme, singt Jason, als er Medea in Luigi Cherubinis Oper zum ersten Mal begegnet, und wohl nie in der Geschichte dieser Oper, die 1797 in Paris begann, hatten diese Worte einen tieferen Sinn als am 7. Mai 1953, als beim Maggio Musicale in Cherubinis Geburtsstadt Florenz eine Sängerin die Szene betrat, die diese Riesenrolle in nur einer Woche gelernt hatte, und die mit den ersten Worten klar machte, dass diese Bühne ihr gehörte: Maria Callas, die Primadonna assoluta, und wenn es neben der Druidenpriesterin Norma noch eine zweite Rolle gibt, die sie für immer geprägt hat, dann diese: Medea.

 

Callas Medea 1
Callas, Medea

Norma, die mit dem römischen Feind Kinder hat, hin und hergerissen zwischen Liebe und Hass, Vernichtungs- und Selbstvernichtungswillen, getrieben von Bellinis außerordentlichen Belcanto-Anforderungen an Ausdruck und Technik und Virtuosität, Norma, die Casta Diva, war das eine. Medea, die ein giftgetränktes Gewand  der Frau, die ihr untreuer Argonaut Jason an ihrer Stelle heiraten will, zum Geschenk macht und die wahr macht, was Norma am tiefsten Punkt ihrer Verzweiflung immerhin erwägt: die eigenen Kinder zu töten.  – Medea ist schlimmer, grausam heidnischer, sie hat den Punkt erreicht, an dem Hass nur noch Hass und Rache nur noch Rache ist. Cherubini hat dem Ungeheuerlichen, bei aller Kunst der Affektdarstellung eine irgendwie noch klassische Form und Fassade gegeben. Die Callas aber, am 7. Mai 1953 in Florenz,  schoss über das Drama hinaus, wie der Kritiker John Ardoin formulierte. Das Publikum wurde Zeuge einer denkwürdigen Anverwandlung: Callas sang nicht, sie war Medea. Gift. Galle. Und: Größe. Pathos.

»Pathos – das ist ein Wort, das ästhetische Allergien hervorruft. Als ob großes Singen denkbar wäre ohne Pathos, im ursprünglichen Sinne: Ausdruck des Leidens. Ausdruck der Leidenschaftlichkeit eines idealen Willens, dessen Kampf von Leiden zeugt und Leiden objektiviert.«

 

Jürgen Kesting, Callas‘ feinnervigster Biograph, über deren Gestaltung der Medea

"Io son Medea!" Finale. Callas, 1953. Maggio Musicale Fiorentino, Vittorio Gui.

Darin lag das Wunder: der Umschlag von totaler, extremistischer Bühnen-Individualität in eine Naturgewalt. Mit Schöngesang hatte es nichts mehr zu tun, obwohl der Callas an diesem Abend, es gibt einen Mitschnitt, so gut wie alles gelang. Dass sie die Rolle an nur acht Tagen gelernt hat, wie die Callas-Legendarik berichtet, kann eigentlich nur so erklärt werden: Sie musste Medea nicht lernen, sie war es schon. Was, wenn man es genau bedenkt, auch ein bißchen gruselig ist.¶

 

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